Wissen ist abhängig von Nichtwissen

Wissen betrifft immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit, geht also immer an der Wirklichkeit des Ganzen vorbei. Über das Ganze können wir nichts wissen. Damit ist Wissen immer auf Nichtwissen bezogen. In der Theologie nennt man das Glauben.

 

Gibt es Gott? Oder gibt es ihn nicht?

Dumme Frage!

Dumme Frage?

„Es gibt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinen Gott!“, sagen die Anhänger des gläubigen Atheisten Richard Dawkins.

„Wir können es nicht wissen“, sagen – wesentlich vernünftiger – die Theologen, „aber wir können es glauben!“

 

Gibt es eine Seele? Oder gibt es sie nicht?

Ist die Frage religiös gefärbt, fallen die Antworten aus wie oben.

Ansonsten spricht die Psychologie von Psyche – aber auch ohne letztlich sagen zu können, was die Seele oder auch nur die Psyche ist.

 

Gibt es Materie? Oder gibt es sie nicht?

Diesmal wirklich eine dumme Frage! Dass es Materie gibt, kann und wird niemand abstreiten.

Oder doch?

„Ich habe 50 Jahre – mein ganzes Forscherleben – damit verbracht, zu fragen, was eigentlich hinter der Materie steckt. Das Endergebnis ist ganz einfach: Es gibt keine Materie! Ich habe 50 Jahre an etwas gearbeitet, was es gar nicht gibt!“

Das sagt einer, der für Materie – und Naturwissenschaft – zuständig ist, der Physiker, Friedens- und Alternativnobelpreisträger Hans-Peter Dürr.

 

Rückschritt der Moderne

Wo Wissenschaft an ihre Grenzen stößt, stößt sie auf den großen Bereich des Nicht-Wissens, des Ganzen.

Wissenschaft steckt noch in den Kinderschuhen, ist gerade einmal 350 bis 400 Jahre alt. Das Nicht-Wissen ist wesentlich älter. Es hat alle Generationen überlebt.

Das „moderne“ Weltbild ist außerdem das des ausgehenden 19. Jahrhunderts geblieben und dort stehengeblieben. Das „Wissen“ der Quantenmechanik ist in unser allgemeines Weltbild noch nicht eingegangen. Unser Weltbild ist an die Naturwissenschaft angelehnt, aber an die Naturwissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

 „Wer die Quantentheorie verstanden hat, hat sie nicht verstanden“, sagt der Nobelpreisträger Richard Feynman.

Wenn es um das geht, was die Welt im Innersten zusammenhält, dann gibt es nichts (rational) zu verstehen.

 

Beherrschende Machtlosigkeit

Wissen ist Macht! Unwissenheit ist Ohnmacht. Nicht-Wissen ist Machtlosigkeit.

Nicht alle Menschen sind Machtmenschen, aber ganz machtlos will doch niemand sein.

Doch am Nicht-Wissen führt kein Weg vorbei. Da hilft kein Verdrängen. Das ist die Macht der Machtlosigkeit.

Ohne Wissen können wir leben, ohne Nichtwissen nicht.

 

Wissen – Unwissen – Nichtwissen

Mit Nicht-Wissen ist nicht Unwissen, Ignoranz gemeint. Im Feld dessen, was wir wissen können, können wir uns um Wissen bemühen oder unwissend (noch nicht wissend) sein oder auch Wissen aus verschiedenen Gründen verdrängen. Dieses Unwissen kann jederzeit in Wissen umgewandelt werden.

Nicht-Wissen ist der Bereich, den wir nie wissen werden können, weil unser endlicher Verstand prinzipiell nicht dazu in der Lage ist. Letztlich geht es darum, dass ein Wissen um das Ganze nicht möglich ist.

 

Nichtwissen des Wesentlichen

Wissenschaft fragt, wie etwas ist; die Frage, was etwas ist, ist keine naturwissenschaftliche, sondern eine philosophische.

„Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist“, schreibt Wittgenstein im Tractatus logico-philosophicus 6.44. Und diese beiden Sichtweisen, die des Wie und die des Dass, sind letztlich inkompatibel. Daher stellt Wittgenstein ein paar Sätze weiter fest: „Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ (6.52).

Die wesentlichen Fragen sind nicht wissenschaftliche Fragen.

Hat das, was uns im Wesen betrifft, etwas mit Wissen zu tun? Kann uns Naturwissenschaft weiterhelfen, wenn es um die wesentlichen Fragen des Menschseins geht?

 

Vergebliches Rückzugsgefecht

Wenn nur existiert, was naturwissenschaftlich fassbar ist, dann gibt es kein Leben. Denn die exakte Naturwissenschaft (Physik und Chemie) erforscht tote Materie. Die kann sie beschreiben. Erklären kann sie nicht einmal diese. Und Leben ist etwas völlig anderes.

Lebewesen sind nun einmal keine Maschinen.

Ein Elektron ist ein Elektron, egal ob hier auf unserer Erde oder irgendwo am Rande des Universums. Aber kein Mensch, kein Baum und keine Schneeflocke – nichts außerhalb von Physik und Chemie – nichts Lebendiges gleicht einem anderen. Die Einmaligkeit des Menschen und auch der Evolution macht bereits die Biologie zu einer autonomen Disziplin mit eigener Philosophie (Ernst Mayr).

In den ersten 200 Jahren nach Galilei und Newton gab es nur eine Wissenschaft, deren Fundament war die Mechanik. Die Biologie war inexistent, erst recht die Psychologie, Soziologie usw. Je mehr aber die Biologie an Bedeutung erlangte, desto schwieriger wurde es, die traditionelle Einheit der Wissenschaft aufrechtzuerhalten.

Als man das Problem erkannte, versuchte man krampfhaft, die Einheit der Wissenschaft durch Reduktion wiederherzustellen. Mayr: „Dieser Auffassung lag die Überzeugung zugrunde, dass alle greifbaren Phänomene dieser Welt auf materiellen Prozessen basieren, die letzten Endes auf physikalische Gesetze zu reduzieren sind. Doch diesem Vorschlag liegt eine fehlerhafte Analyse der Biologie zugrunde, die deren autonome Bestandteile nicht berücksichtigt.“ Und weiter: „Eine solche Reduktion wäre nur dann zulässig, wenn alle biologischen Theorien auf physikalische und molekularbiologische Theorien zurückgeführt werden könnten, aber das ist nicht möglich.“ Mayr bezeichnet die Reduktion der Biologie auf die Gesetze der Physik als ein „schöner Traum“.

 

Wissen erklärt nicht die „Welt“

Mehr noch: Selbst „Welt“ ist kein naturwissenschaftlicher Begriff. Physiker sind da sehr vorsichtig. Als Erwin Schrödinger einmal den Fachausdruck „Welt-Linie“ – in der Relativitätstheorie die Bahnkurve eines Teilchens im Raum-Zeit-Diagramm – gebrauchen wollte, hielt er inne, dachte ein wenig nach und meinte dann: „Ich sag‘ so ungern ‚Welt-Linie‘ weil zur Welt doch so viel mehr gehört als bloß Teilchen in Raum und Zeit.“ (Herbert Pietschmann: „Erwin Schrödinger und die Zukunft der Naturwissenschaften“).

 

Gesichertes Wissen in der Medizin

In der medizinischen Forschung geht es immer um „gesichertes Wissen“. Das gesicherte Wissen von heute sind aber die Irrtümer von morgen.

Daher brauchen wir EBM – Evidence based Medicine – aber die ist auf Sand gebaut. Sie basiert auf Statistik, auf einem statistischen Durchschnittspatienten, den es so in der Natur gar nicht gibt. Der Patient in einer Arztpraxis ist ein Einzelner und kein Durchschnittspatient. Daher ist die gesicherte Wissenschaft auch nur beschränkt auf ihn anwendbar.

 

Es gibt keine Beweise

Wissenschaftlich muss alles bewiesen werden, lautet das Credo der Wissenschaftsgläubigen.  Doch streng genommen gibt es keinen wissenschaftlichen Beweis. Wir können uns auf sie verlassen, aber „beweisen“ kann man nicht einmal die Naturgesetze, so Herbert Pietschmann.

Der Nobelpreisträger Wolfgang Pauli betrachtete die physikalischen Theorien als unvollständig in Bezug auf die Welt als Ganzes.

 

Entweder logisch oder wirklich

Je exakter etwas definiert ist, desto weniger hat es mit der Wirklichkeit zu tun. Absolut exakt sind die Sätze der Mathematik, und die haben mit der Wirklichkeit gar nichts zu tun.

Unsere Logik ist eine Hilfskonstruktion, die uns hilft, unsere Gedanken zu ordnen und die ohnehin geordnete Natur zu überschauen, hat aber nicht direkt mit der Wirklichkeit zu tun.

Die Logik, das sind unsere Denkgesetze. Es gibt auch andere Denkgesetze, z.B. die asiatische Logik.

Logik hat mit unserem Denken, nicht mit der Wirklichkeit zu tun.

 

Dunkle Wirklichkeit

Wir sind umgeben von Aliens, von Boten aus einer anderen Welt:

Elementar“teilchen“, die keine Teilchen sind,

Materie, die nicht materiell ist und die wir nicht verstehen können,

Leben, das wir nicht begreifen können,

das Einmalige, das die „Welt“ ausmacht, und das wir aus unserer Welt verstoßen haben.

 

Wissen und Glauben

„Glauben heißt nichts wissen“, sagt der Volksmund und wissenschaftsgläubige Atheisten.

„Wissen heißt nichts glauben“, fügte dem Johann Nestroy hinzu.

Wissen ist unvollständig im Hinblick auf das Ganze (Wolfgang Pauli).

„99 Prozent von dem, was wir wissen, müssen wir glauben“, betont dagegen Matthias Beck, Arzt, Philosoph, Theologe und Priester. Kein Mensch kann alles nachprüfen, d.h. wir können das meiste, was Wissenschaftler in der ganzen Welt beweisen, nur glauben. Wir müssen z.B. auch glauben, dass der Kapitän unseres Flugzeuges oder der Arzt, der uns operiert, ihr Metier beherrschen.

Glauben ist die Offenheit zu dem, was wir noch nicht wissen und zu dem, was wir prinzipiell nicht wissen können. In theologischer Perspektive ist es der Glaube an Gott, an die Dimension des Ganzen. Aber selbst was die Materie betrifft, können wir das Wesentliche prinzipiell nicht wissen, sagt die Quantenmechanik.

Das heißt, Wissen und Glauben kommen ohne einander gar nicht aus. Wer nur auf Wissen pocht oder wer nur aus dem Glauben heraus lebt, ist gleichermaßen auf dem Irrweg.

 

Weise Worte über das Nicht-Wissen

“Ich weiß, dass ich nichts weiß.” Sokrates

„Zu wissen, dass wir wissen, was wir wissen, und zu wissen, dass wir nicht wissen, was wir nicht wissen, das ist wahres Wissen.“ Nikolaus Kopernikus

„Was wir wissen, ist ein Tropfen. Was wir nicht wissen, ist ein Ozean.“ Isaac Newton

„Was man sicher weiß, ist langweilig.“ Max Perutz, Chemiker

„Das Nichtwissen darf am Wissen nicht verarmen. Für jede Antwort muss eine Frage aufspringen, die vorher geduckt schlief.“ Elias Canetti

„Es gibt kein Recht auf Wissen, aber es gibt ein Recht auf Nichtwissen.“ Erwin Chargaff

„Nichtwissen ist Stärke.“ George Orwell

„Mehr Forschung bringt mehr Nichtwissen ans Tageslicht.“ Mary Douglas & Aaron Wildawsky, Anthropologen

„Das Unwissen ist bisher zu kurz gekommen auf der Welt.“ Kathrin Passig, Autorin

 

Bildnachweis: RH

Published on Newsgrape on 2011-09-18 18:08:23

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Robert Harsieber

 

Philosoph - Journalist - Verleger

 

„Die Art,

wie wir die Welt sehen,

erleben und in ihr agieren,

hängt ab von einem ‚Denkrahmen‘.

Er zeigt den für uns wichtig gewordenen, gewohnten Ausschnitt der Wirklichkeit.

Er schließt ein

und er grenzt aus.

In diesen Denkrahmen

sind wir hineingewachsen.

Wir können aber auch

über ihn hinauswachsen.“