Die „Welt“ der Psyche

Der moderne Mensch hat das Spirituelle, Geistige ins Reich der Phantasie verwiesen. Die Beschränkung auf Materialismus und Egoismus ist aber nicht nur naiv und unnatürlich, sondern auch erwiesenermaßen gesundheitsschädigend.

Unsere Welt ist beschränkt auf das bewusste Ich und die sinnlich wahrnehmbare Außenwelt, und wir sind damit zwangsläufig zu Egoisten (oder zumindest zu Egozentrikern) und Materialisten geworden - ein Haltung, die nicht nur die Wirklichkeit des Ganzen verdrängt, sondern auch zu gesundheitlichen Problemen führen kann.

Wer „wissenschaftlich“ denkt, muss definieren (eingrenzen) – und lebt in der Folge in und mit diesen Eingrenzungen und Beschränkungen. Das ist auch notwendig, wenn und solange wir uns einer rationalen Sprache bedienen. Aber diese ist nicht die einzige Sprache, mit der wir uns der Wirklichkeit nähern können, dessen sollten wir uns immer bewusst sein. Ebenso, dass es immer ein Außerhalb der Grenzen gibt, sonst wären es keine Grenzen, sondern das Ende.

Unsere moderne Ideologie hat noch einen weiteren Haken: Wir glauben an die materielle Welt, aber was diese ist, wird zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich beantwortet. Ganz gewaltig verändert hat sich die Auffassung der materiellen Welt in der Ära der Naturwissenschaft.

Was für uns wirklich zählt, ist ja nicht die Außenwelt, sondern unsere Wahrnehmung dieser Außenwelt, ein an sich psychisches Phänomen. Aber die Psyche ist nur ein Anhängsel der Materie, lautet zumindest das offizielle Glaubensbekenntnis. Nur kann jeder halbwegs ernsthafte Psychologe bestätigen, dass manchmal auch schwere Krankheiten verschwinden, wenn gewisse psychische Probleme gelöst sind. Die Psyche ist somit ein ernst zu nehmendes, wirkendes – und damit wirkliches – Phänomen. Auch wenn sie nicht „real“ im Sinne einer dinglichen, materiellen Außenwelt ist.

Einer, der dieses Phänomen ernst nahm, war C. G. Jung. Er berichtet sogar von einem Fall von hysterischem Fieber von 39 Grad, das wenige Minuten nach der Beichte der psychologischen Ursache geheilt war. Einem anderen Patienten waren wegen Erweiterung des Dickdarms 40 cm herausoperiert worden. Wegen der neuerlichen erheblichen Erweiterung auch des verbleibenden Dickdarms schien eine zweite Operation unumgänglich, die der Patient aber verweigerte. Sobald jedoch gewisse psychologische Tatsachen aufgedeckt waren, begann sein Dickdarm wieder normal zu funktionieren. 

Die Wirklichkeit der Psyche

Wenn die Psyche, wie der Flachlandverstand noch immer anzunehmen geneigt ist, „nichts“ ist, wie kann sie dann derart drastische Wirkungen zeitigen? Alles nur Einbildung?

Eingebildete Tatsachen sind nach Jung nicht unwirklich. „Einbildungen existieren und können genauso wirklich und genauso schädlich und gefährlich sein wie physische Zustände.“   Die Psyche „ist nur nicht dort, wo ein kurzsichtiger Verstand sie sucht. Sie ist vorhanden, aber nicht in physischer Form. Es ist ein fast lächerliches Vorurteil, wenn man annimmt, Existenz könne nur körperlich sein. Tatsächlich ist die einzige Form von Existenz, von der wir unmittelbar wissen, psychisch. Wir können im Gegenteil ebenso gut sagen, dass die physische Existenz eine bloße Schlussfolgerung sei, da wir von der Materie nur insoweit etwas wissen, als wir psychische Bilder wahrnehmen, welche uns durch die Sinne übermittelt werden.“  Für Jung ist die Psyche existent, sie ist sogar unsere unmittelbare Existenz.

Zur Psyche gehört aber nicht nur das bewusste Ich, sondern ebenso das Unterbewusste (Verdrängte, Vergessene, unbewusst Gewordene) und das Unbewusste (das nie im Bewusstsein war). Unbewusste Faktoren verhalten sich oft wie eigenständige Neben- oder Teilpersönlichkeiten, „die ein eigenes geistiges Leben besitzen.“  Darüber hinaus müssen wir sogar die Tatsache anerkennen, dass das Unbewusste, zum Beispiel eine Stimme im Traum, „zu Zeiten fähig ist, eine Intelligenz und Zweckgerichtetheit zu manifestieren, welche der zur Zeit möglichen bewussten Einsicht überlegen sind.“

Interessant ist, dass unbewusste Impulse oft nach außen projiziert und jemand anderem zugeschrieben werden. (Die Fehler, die einem an anderen am meisten stören, sind meist die eigenen). Aber auch wenn sie als innerpsychisch, unbewusst erkannt werden – für das bewusste Ich ist auch das ein „Außen“. Das Unbewusste liegt völlig außerhalb des Einflussbereichs des bewussten Ich.

Die Psyche als Teil des Ganzen

Da man sich des Unbewussten definitionsgemäß nicht bewusst sein kann, ist es genau genommen gar nicht legitim, im Fall einer Traummanifestation aus dem Unbewussten zu sagen, das ist meine Psyche. So argumentiert auch C.G. Jung: „Der Begriff des Unbewussten ist tatsächlich eine bloße Annahme zum Zwecke der Bequemlichkeit. In Wirklichkeit bin ich unbewusst darüber – mit anderen Worten, ich weiß überhaupt nicht, wo die Stimme ihren Ursprung hat.“  Ob man daher von inneren, psychischen – aber unbewussten – Anteilen spricht oder von außen stehenden Mächten, Geistern oder Dämonen, ist letztlich kein wirklicher Unterschied, sondern gleich berechtigte Interpretationen desselben Phänomens.

Sie als mir zugehörig zu benennen, ist nur dann möglich, wenn ich annehme, dass das bewusste Ich nur ein Teil einer umfassenderen Ganzheit ist. Dann ist es aber unmöglich, diese Gesamtheit vollständig zu beschreiben, weil sie eben auch Unbewusstes umfasst. Für Jung ist das Ich Teil eines übergeordneten Selbst als dem Zentrum der unbegrenzten und undefinierbaren psychischen Gesamtpersönlichkeit. Anders ausgedrückt: Der Mensch ist eben auch bei C.G. Jung sehr viel mehr als Mensch.

Aber dessen ist sich heute kaum jemand bewusst. Das beschränkte Ich ist meist das Ein und Alles. So besteht die große Mehrheit gebildeter Leute aus fragmentarischen Persönlichkeiten, kritisiert Jung. Der moderne Mensch leidet „an einer Hybris des Bewusstseins, die sich der Krankhaftigkeit nähert.“ 

Der Mensch als unbegrenzbares Ganzes

Jung fragt bewusst, wessen Bewusstsein das ist, wer dieses Individuum ist? Das Bild, das ich von mir selber habe? Das andere von mir haben? Was weder ich noch andere von mir wissen, aber das auch existiert? „Tatsächlich ist es unmöglich, die Ausdehnung und den definitiven Charakter psychischer Existenz zu bestimmen. Wenn wir nun vom Menschen sprechen, so meinen wir dessen unbegrenzbares Ganzes, eine unformulierbare Totalität, die nur symbolisch ausgedrückt werden kann. Ich habe den Ausdruck ‚Selbst’ gewählt, um die Totalität des Menschen, die Summe seiner bewussten und unbewussten Gegebenheiten zu bezeichnen.“

Rational fassbar ist das Selbst nicht. Für Jung ist es eine „absurde Annahme, dass der Intellekt, der ja nur Teil und Funktion der Psyche ist, genüge, das viel größere Ganze der Seele zu erfassen“.

Ganz zu sein heißt für Jung, voller Widersprüche zu sein, den Widerspruch auszuhalten. Das ist schwer verdaulich für das traditionelle europäische Denken, das Widersprüche immer zwanghaft eliminieren muss. Und wer von einem Forschungsgebiet ein geschlossenes System erwartet, wird sich schwer mit der Arbeit Jungs anfreunden können. Denn Jung hat nahezu das gesamte Spektrum der menschlichen Psyche ausgelotet und daher auch ihre letztliche Unbegreifbarkeit artikuliert. (Ebenso ist die Materie der Physiker letztlich unbegreiflich, was aber zur Physik des 20. Jahrhunderts gehört, die noch nicht in ein allgemeines Weltbild eingegangen ist). Zum Verständnis von Jungs Welt- und Menschenbild sind vor allem Einfühlungsvermögen und ein intuitives ganzheitliches Bewusstsein gefragt. Aber wie formulierte doch Viktor Frankl: „Das Gemüt kann viel feinfühliger sein als der Verstand scharfsinnig!“

Begrenzungen – „innen“ und „außen“

Jeder Wissenschaftler muss sein Gebiet begrenzen, das heißt dass er alles, was von außerhalb einfließt, im definierten Rahmen interpretieren muss. Redliche Wissenschaft ist, sich dieser Tatsache bewusst zu sein und nicht Interpretationen als „Wahrheit“ oder „Realität“ auszugeben.

Der Psychologe muss sagen, dass die Persönlichkeit auf etwas Unbegrenztem und Undefinierbarem (unbewussten) beruht, dessen Leugnung wissenschaftlich naiv wäre. Der Mensch ist teils messbar, aber an einer nach oben offenen Skala, die in Unmessbares mündet.

In einem spirituellen, ganzheitlichen Denkrahmen können die außerhalb des Psychischen liegenden Kräfte benannt werden (Gott, Engel, Geister, Dämonen, Teufel). Für den Psychologen sind das psychische Kräfte, weil er sie wissenschaftlich nur als in der Psyche präsent erfassen kann. Aus der Sicht des begrenzten bewussten Ich kommen sie, so oder so, in jedem Fall von außerhalb des Ich.

Im modernen naturwissenschaftlichen Denkrahmen können wir sagen, dass es diese Phänomene nicht gibt, was auch stimmt, weil sie im Feld des abgesteckten Denkrahmens (Materie in Raum und Zeit) nicht vorkommen. Was aber nicht heißt, dass sie nicht existieren (in einem weiter gespannten Denkrahmen).

Unbewusste Phänomene (die wir nur an ihrer Wirkung indirekt erkennen können, wie die Jung’schen Archetypen), kommen in jedem Fall von außen, haben eine vom bewussten Ich unabhängige Existenz, egal ob wir sie als unbewusste psychische Phänomene oder als objektive Wesenheiten interpretieren. Beides ist Interpretation.

Zwischen Realität und Wirklichkeit

Was hindert uns daran, beides anzunehmen: dass sie psychischer  Natur sind und dass sie selbständige Wesenheiten sind? Dann sind sie selbständige „Geister“ in uns – sozusagen zwischen Subjekt und Objekt – und alle unbewussten psychischen Phänomene wären damit erklärbar. Es entspricht wissenschaftlicher Seriosität, diese Hypothese aufrecht zu erhalten, solange sie nicht widerlegt ist. Und widerlegt ist sie nicht deswegen, weil sie in einem begrenzten Denkrahmen nicht Platz hat.

Die Unbewusstheit und Eigenständigkeit mancher psychischer Faktoren legt auch psychologisch eine Terminologie nahe, die solche Faktoren einem unabhängigen „Außen“ zuschreibt. Jung formuliert daher: „Die Annahme unsichtbarer Götter oder Dämonen wäre eine psychologisch viel passendere Formulierung des Unbewussten, obschon dies eine anthropomorphistische Projektion wäre.“

 

Bildquelle: Amor und Psyche, © cora / pixelio.de

 

Published on Newsgrape on 2011-02-20 12:01:09

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Robert Harsieber

 

Philosoph - Journalist - Verleger

 

„Die Art,

wie wir die Welt sehen,

erleben und in ihr agieren,

hängt ab von einem ‚Denkrahmen‘.

Er zeigt den für uns wichtig gewordenen, gewohnten Ausschnitt der Wirklichkeit.

Er schließt ein

und er grenzt aus.

In diesen Denkrahmen

sind wir hineingewachsen.

Wir können aber auch

über ihn hinauswachsen.“