Der Weg zu einem ganzheitlichen Denken

Es gibt mehrere Versuche in verschiedenen Bereichen unseres Lebens, von einem partikulären zu einem ganzheitlichen Denken zu gelangen. Das europäische Denken ist aber so sehr auf das Fragmentieren konditioniert, dass es sehr schwer ist, ein ganzheitliches Denken zu etablieren.

 

In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es fruchtbare Anstrengungen, ein ganzheitliches Management zu etablieren. Auf Seminaren, Tagungen und großen Kongressen referierten Managementberater und Manager über die Möglichkeiten und Chancen eines ganzheitlichen Managements.

Ebenso gibt es die Bemühungen der Ganzheitsmedizin, obwohl ganzheitliche Medizin meist mit Komplementärmedizin verwechselt wird. Ein Ganzheitsmediziner ist nicht ein Arzt, der Homöopathie, Akupunktur oder irgendeine andere komplementäre Methode anwendet, sondern einer, der den Menschen als Ganzheit von Körper, Seele und Geist sieht. Solche Ärzte gibt es auch in der Schulmedizin, während viele Komplementärmediziner weit entfernt von einem ganzheitlichen Menschenbild sind.

Das Ganze und die Teilbereiche

Im Anfang war das Ganze, aber darüber lässt sich rational nichts aussagen. Denn denken heißt in unseren Breiten definieren, abgrenzen und damit auch ausgrenzen. Damit gibt es, wo rational argumentiert wird, immer einen Bereich, über den nichts ausgesagt werden kann. Denn es kann immer nur um einen Teilbereich des Ganzen gehen, das Ganze ist rational nicht abgrenzbar und damit nicht zugänglich.

Daher müssen wir Grenzen setzen, damit wir definieren und argumentieren können – immer nur innerhalb festgesetzter Grenzen. Auch die Naturwissenschaft hat einen Bereich abgesteckt, nämlich den der Materie in Raum und Zeit. Innerhalb dieses Bereichs ist exakte Naturwissenschaft möglich. Der naturwissenschaftlich erfassbare Bereich als Ganzes ist jedoch nicht wissenschaftlich entstanden und auch nicht wissenschaftlich erfassbar. Er wurde festgelegt, wie andere Bereiche auch.

Die innerhalb des Ganzen abgesteckten einzelnen Bereiche stehen ebenfalls nicht rational zur Disposition. Sie werden umschrieben durch Worte wie „Materie“ (als „Oberbegriff“ und Rahmen der Physik), „Leben“ (als „Oberbegriff“ der Biologie), „Psyche“ (als „Oberbegriff“ der Psychologie) usw., und es ist auffallend, aber auch verständlich, dass etwa der Begriff „Materie“ in der Fachsprache der Physik gar nicht verwendet wird, weil Physik nicht sagen kann, was Materie ist, sondern nur versuchen kann herauszubekommen, woraus sie aufgebaut ist. Physiker operieren mit dem Begriff der „Masse“, und selbst das ist mit Schwierigkeiten verbunden. Ebenso kann Biologie nicht definieren, was Leben ist, auch wenn heute reichlich schlampig von „Lebenswissenschaften“ die Rede ist.

Und doch ist der Wissenschaftsbetrieb nicht möglich, ohne das gesamte Feld zu reflektieren, innerhalb dessen er sich abspielt. Aber von „innen“ ist dieser immer ein Ganzes, nur als (immer erweiterbarer) Horizont erfassbar, ein quasi „Unendliches“. Es gibt ja kein „Außerhalb“. Die gesamte Welt der „Materie“ ist das „Universum“, außerhalb dessen nichts (Materielles) existiert. Es gibt keine Physik ohne den Bezug zu diesem Ganzen, zu diesem Horizont der „Unendlichkeit“, auch wenn so etwas wie „Unendlichkeit“ in der evolutionär gewachsenen Anschauung auch eines Physikers nicht vorkommt.

Das kann natürlich nicht Gegenstand von Wissenschaftskritik sein, denn das Abstecken von Bereichen ist für den rationalen Verstand notwendig und macht exakte Untersuchungen und Aussagen erst möglich. Zu kritisieren ist nur, wenn über diesen exakten Aussagen das Ganze der Physik als ab-gesteckter Bereich, als Teil eines größeren Ganzen, vergessen wird. Wenn physikalische Wirklichkeit als die Wirklichkeit gesehen wird und nicht als jener „Teil“ der Wirklichkeit, der mit der Methode der Naturwissenschaft erfasst werden kann.

Die methodische Notwendigkeit der Begrenzung

Die Begrenzungen selbst sind mehr oder weniger willkürlich, jedenfalls aber methodisch. So haben DESCARTES, GALILEI und NEWTON nicht eine neue Wirklichkeit abgesteckt, weil sie die „richtige“ Methode entdeckt hatten, sondern weil sie der Gefahr der Verfolgung durch dogmatische Kleriker endgültig entgehen wollten. So beschränkten sie ihre Wissenschaft auf Materie in Raum und Zeit mit der Methode des Experiments, und überließen den verbleibenden „Rest“ der Wirklichkeit – den sie wohlgemerkt nicht leugneten – dem Einflussbereich der Kirche.

Immer wenn Naturwissenschaft (von innen) an ihre Grenzen stößt (im unendlich Kleinen der Welt der Elementarteilchen oder im unendlich Großen des Weltalls, in der Frage des „Anfangs“ und des „Endes“ des physikalischen Universums), zeigen sich sofort nahezu unüberwindliche Probleme. Diese „Grenzen“ können nicht definiert (begrenzt) werden, weil sie nicht von beiden Seiten gesehen werden können. Und sie rühren an jenen Bereich der Wissenschaft, der festgelegt, aber nicht wissenschaftlich festgelegt wurde und daher auch nicht wissenschaftlich definiert werden kann.

Problematisch wird es auch, wenn innerhalb des Bereichs einer Wissenschaft sich Abgrenzungen als in bestimmter Hinsicht ungeeignet erweisen. So sind etwa unsere Abgrenzung (Definition) von Teilchen und Welle in der Quantenphysik nicht gleichermaßen brauchbar wie in der Welt der alltäglichen Anschauung – die auch sonst nicht identisch ist mit der Welt der Naturwissenschaft, aber das wird meist nicht gesehen.

Auch die Mathematik rechnet mit der Unendlichkeit, ohne Rücksicht auf unsere Anschauung zu nehmen. Unendlichkeit ist nicht vorstellbar. Ein unendliches Universum überschreitet unsere Vorstellungskraft, ebenso wie ein endliches, denn dann hat es eine Grenze – was zur Frage berechtigt: Was ist jenseits dieser Grenze? Dass die Unendlichkeit einer Dimension nicht auch unendlich in einer höheren Dimension ist, schiebt das Problem nur vor uns her. So kann die Theorie des Urknalls das Universum nicht erklären, weil sie uns – selbst wenn Raum und Zeit erst mit dem Urknall entstanden sind – nicht von der Frage entbindet: Was war „vor“ dem Urknall? Oder wie es RUPERT RIEDL formuliert: „Wer hat da urgeknallt?“ Abgesehen davon, dass die Urknall-Theorie wenn, dann nur den Anfang der materiellen, nicht der Welt erklärten kann.

Die „Realität“ und die Wirklichkeit des Ganzen

Völlig absurd wird es aber, wenn jemand behauptet, es gebe überhaupt nur die physikalische Wirklichkeitvon Raum und Zeit. Dass uns das heute fast selbstverständlich klingt, und sogar als „logisch“ und „rational“ verkauft wird, liegt an einer anderen – ebenso willkürlichen – Einteilung und Aufteilung der menschlichen Wirklichkeit: Die Unterscheidung zwischen geistiger und materieller Wirklichkeit impliziert die zwischen subjektiver und objektiver Wirklichkeit. Und in einem System der materiellen, objektiven „Wirklichkeit“ – wenn sie unzulässig als die Wirklichkeit gesehen wird – schrumpft die geistige, subjektive Wirklichkeit zu einem abstrakten Punkt. Mit diesem „Kunstgriff“ wird die äußere Welt absolut gesetzt und die innere Welt (die vom Ganzen her genau dieselbe Berechtigung hat, sich als Bereich des Wissenserwerbs zu etablieren) verleugnet. Eine totale Verkümmerung der inneren Welt, vor allem in der westlichen Hemisphäre, ist die nur zu deutliche Folge.

Mit der Innenwelt wurden auch der Mensch und das eigentlich Menschliche aus der Naturwissenschaft eliminiert. Naturwissenschaft hat den Menschen aus dem Wissenschaftsbetrieb herausgenommen. Dies wäre ihr nicht zum Vorwurf zu machen, weil sie ja völlig berechtigt ihr eigenes Forschungsgebiet hat. Absurd wird es aber dann, wenn Naturwissenschaft „den Menschen“ zu erklären versucht, ohne zu deklarieren, dass es sich dabei um den naturwissenschaftlich erfassbaren „Teil“ des Menschen handelt, der natürlich nicht den ganzen Menschen erklären kann.

Es gibt das Ganze und es gibt Ein-Teilungen im Ganzen, die uns ermöglichen, konkretes Wissen von Einzelnem zu sammeln. Wer über dieses Wissen das Ganze vergisst, verleugnet oder verdrängt, belügt sich allerdings selbst.

Bildquelle: © Albert Harsieber


Published on Newsgrape on 2011-02-20 12:14:09

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Robert Harsieber

 

Philosoph - Journalist - Verleger

 

„Die Art,

wie wir die Welt sehen,

erleben und in ihr agieren,

hängt ab von einem ‚Denkrahmen‘.

Er zeigt den für uns wichtig gewordenen, gewohnten Ausschnitt der Wirklichkeit.

Er schließt ein

und er grenzt aus.

In diesen Denkrahmen

sind wir hineingewachsen.

Wir können aber auch

über ihn hinauswachsen.“