Hat Medizin etwas mit

 

Gesundheit zu tun?

 

Gesundheit als neues Paradigma im Gesundheitssystem

 

Robert Harsieber

(im Rahmen der Interdisziplinären Ringvorlesung Integratives Lernen „Neues Weltbild – Neues Denken. Paradigmenwechsel und Bewusstseinswandel in Wissenschaft und Gesellschaft“, WS 1996/97, Karl-Franzens-Universität Graz)

 

Die heute allgemein anerkannte Medizin geht nicht von Gesundheit, sondern von Krankheit aus. Sie ist außerdem derart in Fachgebiete und darin enthaltene Spe­zialgebiete aufgesplittert, daß fast für jedes Organ ein anderer Facharzt zuständig ist. Bei den 1. Wiener Geriatrie-Tagen meinte Prof. I. Füsgen (Universität Witten/ Herdecke):

"So denken fast alle medizinischen Fächer organzentriert und krankheitsorientiert. Im Vor­dergrund steht ein bestimmtes Organ und eine bestimmte Krankheit mit ihren je­weiligen Ge­setzmäßigkeiten.Eine Individualisierung des Ablaufes ist ein sekundäres Phänomen. Dieses Denken kann für den einzelnen Patienten bedrohlich, ja sogar tödlich sein."

Als Beispiel nennt Füsgen einen betagten Patienten, der wegen Herzversagens ins Krankenhaus kommt und von den Herzspezialisten erfolgreich behandelt wird. Der Patient ist mit seinen geistigen Leistungsfähigkeiten an der Kippe, kommt aber zu­hause noch zurecht. Durch die Be­handlung wird er bettlägerig gemacht und baut dabei gleichzeitig geistig ab. Die Folge ist ein Umkippen in die Verwirrtheit und die Einbahnstraße ins Pflegeheim. Füsgen: "Fahrlässige Medizin, kann man heute auf­grund unserer Kenntnisse dazu sagen."

Dieses aktuelle Zitat rechtfertigt wohl die Frage nach dem Zusammenhang von Medizin und Gesundheit.

 

Zum Arzt gehen wir, wenn wir uns krank fühlen und nicht wenn wir gesund sind. In­sofern ist Medizin nicht für Gesundheit zuständig, sondern für Krankheit. Andererseits erwarten wir vom Arzt selbstverständlich, daß er uns - wenn wir krank sind - auf dem schnellsten We­g wieder gesund macht. Insofern sollte Medizin sehr viel mit Gesundheit zu tun haben, nämlich als Er­gebnis des medizinischen Han­delns.

Es geht in der Medizin nicht in erster Linie um Krankheiten, sondern um uns Patienten. Daher die Frage: Macht uns der Medizinbetrieb wirklich gesund?

Was ist Gesundheit?

Was ist der Mensch?

Wenn wir diese Fragen zu beantworten versuchen, dann kommen wir eigenartiger­weise vom modernen Medizinbetrieb ziemlich weit weg.

Stellen wir - wie es doch der Fall sein sollte - den Menschen in den Mittelpunkt, dann sehen wir, daß unser Gesundheitssystem und die übliche Medizin nur einen Teilbereich unseres The­mas abdecken können.

Der Patient ist immer ein ganzer Mensch. - Die moderne Medizin ver­steht sich aber als natur­wissenschaftliche Medizin. Und das ist ein Widerspruch! Denn die Na­turwissenschaft erforscht nur das Meßbare, Materie in Raum und Zeit. Der Mensch aber hat zwar Anteil am materiellen Bereich, er ist aber nicht bloß Materie.

 

Naturwissenschaftliche Medizin

 

Seit Descartes unterscheiden wir zwischen einer materiellen und einer geistigen Welt. Später wurde aus dieser Unterscheidung eine Trennung und zuletzt kam es zur Leugnung einer (der geistigen) Welt. Diese Degeneration war sicher nicht im Sinne der "Erfinder" Descartes, Galilei und Newton.

Galilei wollte sich in Ruhe (von der Kirche ungestört) mit dem beschäftigen, was meßbar und wiederholbar ist. Das "Andere" überließ er den Theologen, nicht im Sinne einer Leugnung die­ses Bereichs, sondern sozusagen im Sinne einer "Arbeitsteilung".

In der Erforschung des Meßbaren, der Materie in Raum und Zeit, war die Natur­wissenschaft in der Folge aber derart erfolgreich, daß alle anderen Wissenszweige danach strebten, diese (naturwissenschaftliche) Methode zu übernehmen. Dies führte zu der eigentlich absurden Si­tuation, daß wir an den Universitäten eine Psychologie haben, die sich mit allem möglichen, aber kaum mit der Psyche be­schäftigt. Dazu entstand dann eigens die Tiefenpsychologie, die ihrerseits wieder um die (Natur-)Wissenschaftlichkeit kämpfte.

Wir haben an den Universitäten ein ganzes Spektrum von Wissensgebieten: von der Physik und Chemie über Biologie und Psychologie bis zur Theologie. Daß es sich hierbei um keine völlig getrennten Bereiche handeln kann, geht schon daraus her­vor, daß heute neue Wissenschafts­zweige zwischen verschiedenen Bereichen bzw. verschiedene Bereiche umfassend entstehen: Biochemie, Biophysik, Psychophysio­logie, Biophotonenforschung etc.

Und die Frage "Was ist der Mensch?" steht hinter jedem einzelnen dieser Wissen­schaftsberei­che, denn Wissen wäre nichts ohne Bezug zu dem, der dieses Wissen hat. Das gilt selbstver­ständlich auch für die Naturwissenschaften und auch für die Physik. Heute ist es ja klar, daß auch die objektivsten Fakten abhängig sind von der (subjektiven) Fragestellung.

Wo in diesem Spektrum ist die Medizin anzusiedeln?

Als naturwissenschaftliche Medizin kann sie nur den Bereich Physik, Chemie, Bio­logie abdec­ken. Wo von der "Psyche" die Rede ist, wird sie auf das Materielle redu­ziert, z.B. in der Psychiatrie, die vorwiegend mit Psychopharmaka arbeitet. Und wenn einmal trotz Beschwer­den des Patienten nichts Körperliches gefunden werden kann, dann überläßt man das Feld den Psychosomatikern - in der Überzeugung, daß dem Patienten nichts wirklich fehlt. Denn "wirklich" ist nur das objektiv Meßbare. Hier wird ganz eindeutig das Seelisch-Geistige auf das Materielle reduziert. Und das ist laut Popper und Eccles nicht möglich!

Selbst wenn man einmal alle physikalischen Gesetzmäßigkeiten im Körper und die gesamte Körperchemie und -biologie kennt und beherrscht (bis hinauf zu den Neu­ronen, Botenstoffen und elektromagnetischen Reaktionen im Gehirn und Zentral­nervensystem, weiß man über den Menschen noch sehr wenig - und über das eigentlich Menschliche überhaupt nichts.

In diesem Sinne meinte auch Wittgenstein, daß, wenn alle Fragen der Wissenschaft beantwor­tet sind, das eigentlich Menschliche noch nicht einmal berührt ist.

Spätestens hier macht sich schmerzlich bemerkbar, daß die moderne Medizin nicht vom Men­schen ausgeht, sondern von der Naturwissenschaft, und daß sie daher gar kein eigenes, genau genommen überhaupt kein Menschenbild hat - und auch nicht haben kann! Denn in der Na­turwissenschaft kommt der Mensch als Subjekt nicht vor).

Diese Medizin ist also gar nicht imstande, den Menschen als Ganzes zu erfassen. Der Mensch selbst umfaßt aber dieses gesamte Spektrum von der Materie bis zum Geist, und auch gesund sind wir nur dann, wenn alle Bereiche harmonisch zusam­menwirken.

Wenn wir einen Teil dieses Spektrums, das Seelisch-Geistige verdrängen, unter­drücken oder ignorieren, dann kann das nicht gesund sein. Das mechanistische, materialistische Weltbild der naturwissenschaftlichen Medizin ist daher in bestimm­ten Bereichen sogar krankmachend. Nämlich dort, wo die Ursachen und Probleme im Seelisch-Geistigen liegen, die nicht stellver­tretend im Materiell-Körperlichen ge­löst werden können. Diese Medizin kann daher auch nur Symptome zum Ver­schwinden bringen, aber nicht im eigentlichen Sinne heilen. Denn heil be­deutet ganz.

In dieser ihrer beschränkten Einstellung hat es die universitäre Medizin auch zuge­lassen, daß sich die Psychotherapie - die ursprünglich innerhalb der Medizin ent­standen ist - als eigener Heilberuf außerhalb der Ärzteschaft etabliert hat. Unter Heulen und Zähneknirschen der Medi­ziner, die dieses Gebiet sträflich vernach­lässigt haben, weil es ja nicht in das naturwissenschaft­liche Weltbild paßt.

Die Medizin müßte also alle Bereiche des menschlichen Seins umfassen, um das tun zu können, was sie vorgibt zu tun, nämlich zu heilen. Tatsache ist denn auch, daß Medizin nicht mit na­turwissenschaftlicher Medizin gleichzusetzen ist. Schon die Arbeit des Praktischen Arztes ist nicht naturwissen­schafltiche Medizin. Bei ihm zählt in erster Linie die Erfahrung und nicht die Ergeb­nisse wissenschaftlicher Studien, die er nur in seine Tätigkeit einfließen läßt. Und die ja für den Einzelfall gar nichts aussagen können - außer Wahrscheinlichkeiten.

 

Schulmedizin und Komplementärmedizin

 

Auch innerhalb der Medizin haben sich zwei gegensätzliche Welten herausgebildet. Einerseits die Schulmedizin, die sich auf die naturwissenschaftliche Sicht zurückge­zogen hat, und ande­rerseits die früher "Alternativmedizin" genannte Komplementär­medizin.

Den Alternativen wird von seiten der Schulmediziner regelmäßig der Vorwurf ge­macht, daß sie kaum wissenschaftliche, d.h. placebokontrollierte Doppelblindstudien vorzuweisen hätten. Die Schulmediziner müßte man umgekehrt fragen, ob eine rein naturwissenschaft­liche, nur auf das Materielle bezogene Medizin überhaupt möglich ist. Denn "Gegenstand" der Medizin ist ja nicht Materie, sondern der Mensch.

In den letzten Jahren ist allerdings auf dem Gebiet der Komplementärmedizin doch schon eini­ges geschehen, und es gibt für manche Bereiche ganz brauchbare Studien. Nur die Vorwürfe von Seiten der Schulmediziner bleiben unverändert. Die werden gewohnheitsmäßig auch noch bestehen, wenn die Komplementärmedizin schon mehr seriöse Studien aufzuweisen hat als die Schulmedizin. In den extremen Auswüchsen handelt es sich hierbei ja nicht um sachliche Ar­gumente, sondern um einen buchstäblichen Glaubenskrieg.

Diese Spaltung innerhalb der Medizin ist in sich ungesund und sehr von Nachteil für den Pati­enten. Prof. Erwin Ringel hat vorgerechnet, daß ein psychosomatisch Kranker durchschnittlich sechs Jahre durch die Mangel der Apparatemedizin ge­zogen wird, bis er endlich einer adäqua­ten Behandlung zugeführt werden kann.

Und Befindlichkeitsstörungen und chronische Krankheiten werden in der Schul­medizin mit "chemischen Keulen" behandelt, wobei gleichsam mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird.

Wir könnten also mit einiger Berechtigung die Frage "Hat Medizin etwas mit Ge­sundheit zu tun?" ergänzen durch eine noch drastischere Frage: "Ist diese Medizin nicht in bestimmten Be­reichen selbst pathologisch, d.h. krankmachend?"

Denn so wie sie dem psychosomatisch Kranken - der in dieser Zeit sicher nicht ge­sünder wird - jahrelang eine entsprechende Therapie vorenthält, so wird ihm in Be­reichen, die einer komple­mentären Therapie durchaus zugänglich wären, eben diese durch einen unsinnigen Glaubens­krieg vorenthalten.

Heute ist es so, daß etwa ein Homöopath, der aus Erfahrung bestimmte Krankheiten homöopa­thisch behandelt, mit einem Fuß im Kriminal steht, weil man ihm im Fall von Komplikationen immer vorwerfen kann, nicht alle Möglichkeiten der allgemein aner­kannten Schulmedizin zu­erst ausgeschöpft zu haben.

Ich persönlich bin überzeugt, daß in ein paar Jahren jeder Schulmediziner beim Auftreten von schweren Nebenwirkungen mit einem Fuß im Kriminal steht, wenn er z.B. leichtere Beschwer­den, Befindlichkeitsstörungen oder chronische Erkrankungen gleich mit schulmedizinischen, chemischen Vorschlaghämmern behandelt, ohne vorher komplementäre Methoden zu versu­chen.

Jede Methode hat ihre Vorzüge und Möglichkeiten. Und jede Methode hat auch ihre Grenzen - auch die schulmedizinische. Die Schulmedizin hat als Akutmedizin bei schweren und schwer­sten Krankheiten und Unfällen enorm viel geleistet. Dies kann gar nicht genug gewürdigt wer­den.

Sie hat aber bei Befindlichkeitsstörungen, bei psychosomatischen Krankheiten und bei chroni­schen Erkrankungen eher wenig zu bieten. Dies ist aber gerade die Stärke der sogenannten Alternativmedizin, die man heute lieber Komplementärmedizin nennt, und die man noch besser Regulationsmedizin nennen sollte. Denn sie be­kämpft keine Symptome wie die Schulmedizin, sondern sie versucht die Selbst­heilungskräfte zu fördern. Sie unterstützt den Organismus, sich selbst wieder zu re­gulieren.

Damit sind auch schon deren Grenzen festgelegt: Wo die Regulationsfähigkeit ver­lorengegan­gen ist (Organschädigung), oder die Selbstregulation zu langsam wäre (etwa auf der Intensiv­station), da kann eine Regulationsmedizin nichts mehr aus­richten. Dann ist selbstverständlich die Schulmedizin am Platz. Dann können aber immer noch komplementäre Methoden beglei­tend eingesetzt werden, wodurch z.B. die Nebenwirkungen etwa von Strahlen- oder Chemo­therapie gemildert werden können.

Das heißt, der erste Schritt in Richtung eines Paradigmenwechsels in der Medizin wäre die Anerkennung der komplementären Methoden, wie sie derzeit auch bereits imgange ist (Ärztekammerdiplom für Akupunktur, Homöopathie, Neuraltherapie und Manuelle Medizin, Referate für komplementäre Medizin in den Ärztekammern).

 

Ganzheitliche Medizin

 

Um diesen unsinnigen Streit zu beenden und jedem Part seinen Platz zuzugestehen, wurde der Begriff der Ganzheitsmedizin geschaffen. Ganzheitsmedizin ist daher kein anderes Wort für Alternativmedizin, sondern umfaßt Schulmedizin und komplementäre Methoden unter Be­rücksichtigung der seelisch-geistigen Komponenten. Sie betrachtet den Menschen als Einheit von Körper, Seele und Geist und berück­sichtigt auch dessen Dynamik (Entwicklung und Ent­wicklungsfähigkeit).

Das alte Weltbild ist nicht nur mechanistisch, sondern auch statisch. Alles Leben­dige ist aber ständig im Wandel und in Entwicklung. Daher kann auch der Mensch nicht definiert werden als Wesen, das so oder so ist (als homo sapiens oder was auch immer), sondern nur dynamisch als Wesen, das sich entwickelt.

Dann ist auch Heilung nicht die Wiederherstellung des (gesunden) Zustandes vor der Erkran­kung, sondern Heilung ist die Wiederherstellung der Entwickungsfähig­keit. Und Krankheit ist aus der Sicht der Persönlichkeitsentwicklung immer auch ein Lernprozeß. Das Symptom sagt uns, daß und wo etwas fehlt. Oft liegt das Problem im seelischen Bereich, und wird nur in den Körper hineinprojiziert.

Wenn wir es tat­sächlich lösen, im seelischen wie im körperlichen Bereich, dann sind wir am Ende dieses (Lern-) Prozesses ein anderer Mensch geworden - mit einem Zuwachs an Reife, Einsicht, Lebenserfahrung usw. (Das ist nicht einfach die Wiederherstellung der Arbeitsfähig­keit, wie es sich aus der Sicht der Krankenkassen darstellt.)

 

Die zwei Welten (Materie/Körper und Seele/Geist) sind keine separierten Entitäten, sondern bilden sozusagen ein Kontinuum vom Materiellen zum Geistigen. D.h. auch die sogenannte "tote Materie" hat etwas "Geistiges" an sich. Und umgekehrt gibt es noch im Seelischen immer etwas, das man in irgendeiner Form meßbar machen kann. (Schmerzskala, Wellness-Scores/Lebensqualität ... ). Man kann daher selbstverständlich auch im Bereich der Psyche Wissenschaft be­treiben (wenn auch nicht Naturwissenschaft im strengen Sinne).

Wenn der Mensch eine Psyche hat, dann ist genau genommen jegliche Krankheit psychosoma­tisch, weil man dann Körper und Psyche gar nicht separieren kann. Psychosomatisch sind also nicht bestimmte Erkrankungen, sondern Psychosomatik ist eine unabdingliche Einstellung der Mediziner.

Wenn der Mensch eine Psyche hat, dann ist aber umgekehrt auch die Gesundheit psychosoma­tisch. Die psychosomatische Perspektive ist damit nicht nur eine medi­zinische, sondern eine ganz allgemeine, die auch uns selbst betrifft. Eine gesunde Lebensführung erschöpft sich nicht in der Gesunderhaltung des Körpers, sondern betrifft Körper, Seele und Geist - das gesamte Spektrum des menschlichen Seins.

Dies ist auch die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO): Gesundheit ist "körperliches, psychisches, soziales und spirituelles Wohlbefinden"!

Das geht weit über die naturwissenschaftliche Medizin, weit über Psychologie und Psychothe­rapie und auch weit über die meisten Methoden der Komplementärmedi­zin hinaus - und umfaßt das gesamte Spektrum des Menschseins, vom Materiellen bis hin zum Spirituellen, was immer wir konkret darunter verstehen.

 

Die Erhaltung der Gesundheit

 

In einer Zeit, in der das Gesundheitssystem immer teurer und bald nicht mehr zu finanzieren sein wird, kommt der Gesunderhaltung eine immer größere Bedeutung zu. In der öffentlichen Diskussion ist auch immer öfter von Vorbeugung und Pro­phylaxe die Rede. Aber auch hier wieder die Frage: Kann eine ausschließlich naturwissenschaftlich orientierte Medizin hier sehr viel beitragen?

Tatsächlich sind die Anstrengungen in diese Richtung bisher sehr kümmerlich. Es ist noch nicht so lange her, daß man die Gesundenuntersuchungen als Vorbeugung bezeichnet hat. Die Früherkennung von Krankheiten war damals der Horizont dessen, was man sich in einem Sy­stem, das total auf Krankheit fixiert ist, gerade noch vor­stellen konnte, zur "Gesunderhaltung" beizutragen.

Die nächste Stufe ist dann die Vermeidung von Risikofaktoren. Man hat z.B. erkannt, daß Bluthochdruck, Fettleibigkeit, Bewegungsmangel und Rauchen Risikofaktoren für Herzkrank­heiten sind. Die Vermeidung solcher Faktoren ist daher ein wichtiger Beitrag zur Gesunderhal­tung. Daraus hat sich die "Lebensstilmedizin" entwickelt, die allerdings in der Umsetzung ihrer Ideen nicht sehr erfolgreich ist.

Denn einerseits handelt es sich ausschließlich um Maßnahmen und Faktoren, die den körperli­chen Bereich betreffen, die aber andererseits zu einem guten Teil psychisch bedingt sind - also sozusagen in den Bereich außerhalb des Einfluß­bereichs der herkömmlichen Medizin hineinrei­chen.

Es handelt sich dabei außerdem um Aktivitäten oder Umstellungen, die jeder für sich selbst umsetzen muß, wofür Wille, Motivation, Einsicht usw. notwendig sind, also subjektive, psychi­sche Eigenschaften, mit denen die naturwissenschaftliche Medizin ja sonst nichts zu tun hat oder haben will. Hier stößt die Schulmedizin an ihre eigenen selbstgesetzten Grenzen.

 

Die Rolle des Patienten

 

Es gibt so etwas wie eine Eigenverantwortung für Gesundheit und Krankheit, die uns kein Arzt nehmen kann. Gute Medizin ist immer ein Anstoß in Richtung Gesundheit, in Richtung Hei­lung. Die eigentliche Kompetenz für Gesundheit und Heilung liegt aber nicht beim Arzt, son­dern bei uns selbst.

Bei den meisten medizinischen Diskussionen bleibt ein ganz wichtiger Faktor unbe­rück­sichtigt: nämlich der Patient, um den sich doch eigentlich alles dreht, oder zu­mindest drehen sollte.

Gehen wir einmal davon aus, daß die Medizin eine ganzheitliche werden sollte. Was ist dann die Rolle des Patienten?

So wie die Schulmedizin zwar gewaltige Fortschritte gemacht hat, aber über weite Strecken zu einer "Reparaturmedizin" degeneriert ist, so haben wir uns auch als Patienten angewöhnt, daß der Arzt schon wieder alles richten wird. Als sichtbares Ergebnis tragen wir das Rezept in die Apotheke und werfen dann mehr oder weniger brav die verschriebenen Tabletten oder Tropfen ein. (Was bei akuten Erkrankungen auch notwendig ist!). Damit verschwinden hoffentlich die Symptome. - Heilung aber ist etwas anderes.

So wie wir uns darüber beklagen, daß wir im Spital nur eine Nummer oder "die Leber von Zimmer vier" sind, akzeptieren wir meist auch für uns selbst nur, daß z.B. unsere Niere krank ist, aber nicht, daß wir krank sind. Krank ist aber immer der ganze Mensch!

Der zweite Fehler ist, daß wir dem Arzt die volle Verantwortung übergeben und jeg­liche Be­handlung passiv über uns ergehen lassen. Am liebsten würden wir doch am Vormittag unseren Körper beim Arzt zum Service abliefern und am Nachmittag repa­riert oder generalüberholt wieder abholen.

Ganzheitliche Medizin bedeutet aber auch, daß nicht der Arzt allein etwas tun muß, sondern Arzt und Patient gemeinsam. Der Arzt kann nur helfen, "heilen" muß sich der Patient selber. Und so erstaunlich das klingt: es gibt sogar Chirurgen, die diesen Standpunkt vertreten!

Will man als Patient selbst nichts aktiv beitragen, dann verschwinden im besten Fall zwar die Symptome, sie kommen aber doch sehr wahrscheinlich wieder. Manchmal auch auf einer ande­ren Ebene, und weder Arzt noch Patient erkennen den Zusam­menhang.

Ein Symptom will immer etwas sagen. Die Haut z.B. ist ein Kontaktorgan. Probleme mit der Haut deuten da­her auf Kommunikationsschwierigkeiten hin. ("Komm mir nicht zu nahe!"). Kann die Haut das nicht mehr ausdrücken, weil der medizinische Erfolg (z.B. mittels Kortison) sie daran hindert, dann versucht die Seele, ihr Problem eben anders auszudrücken, etwa über die Lunge - ebenfalls ein Kontaktorgan, wie die Haut Verbindung zwischen Außen und Innen. Der zweifelhafte "Erfolg" der Behand­lung ist dann, daß der Patient oft statt Neurodermitis eben Asthma bekommt. Dieses Phänomen ist auch in der Schulmedizin bekannt und wird "Symptomverschiebung" genannt.

Erst wenn das dahinterliegende Problem, in diesem Fall ein Kommunikationspro­blem, be­arbei­tet und gelöst wird, kann wirkliche Heilung erfolgen, und sowohl Haut als auch Lunge können Ruhe geben.

 

Heilung und Sinn

 

Mediziner stehen oft vor dem Rätsel von sogenannten Spontanheilungen. Auch Schwerkranke werden manchmal plötzlich, ohne ersichtlichen Grund gesund. Eine japanische Untersuchung an derart spontan gesundeten Krebspatienten ergab, daß es sich dabei vor­wiegend um Men­schen handelte, die ihre Krankheit zum Anlaß nahmen, ihr Leben von Grund auf zu ändern.

In diesem Sinne sind Krankheiten auch nichts unbedingt Negatives, das mit allen Mitteln be­kämpft werden muß, sondern sie zeigen an, daß in unserem Leben etwas nicht stimmt. Wan­deln wir die Krankheit um in einen Lernprozeß, kann sie ihren Schrecken durchaus verlieren.

Die Humanistische Psychologie hat festgestellt, daß sogenannte Gipfelerlebnisse (Erfahrungen, in denen man sich Eins mit dem Kosmos fühlt, in denen das kleine Ego verschwindet) die Kraft zur Heilung in sich tragen. Nach solchen "mystischen" Erfahrungen, die jeder irgendwann ein­mal hat, ge­nesen viele Menschen von ihren Krankheiten. Heilung hat also sehr viel mit dem Sinn unseres Lebens zu tun.

Hier liegt ein Schlüssel zu einem Gesundheitssystem der Zukunft. Es geht nicht darum, immer neue Lösungen für immer neue Krankheiten zu finden (trotz beein­druckender Fortschritte der Medizin sind ja die Krankheiten insgesamt nie weniger geworden - sie haben sich nur geän­dert), sondern der Mensch selbst ist auch die Lösung. Nicht immer neue Medikamente oder neue medizinische Richtungen, sondern nur ein neuer Mensch wird in Zukunft überleben kön­nen.

 

Die Beschäftigung mit dem Sinn des Lebens, mit dem Geistig-Spirituellen, mit reli­giösen Er­fahrungen hat sehr viel mit Gesundheit zu tun.

Die einseitige Konzentration auf die Krankheit hat weitgehend verhindert, daß sich die Medizi­ner auch mit Gesundheit beschäftigen. So macht sich in der Medizin nicht nur das Fehlen eines Menschenbildes bemerkbar, sondern ebenso das Fehlen einer geeigneten Vorstellung des Zu­standes, der durch die Medizin sozusagen herzustel­len ist.

Der Mensch ist nicht nur krank, wenn meßbare Werte aus der Norm fallen, er wird auch krank, wenn er in seiner seelisch-geistigen Entwicklung stagniert. Körperlich nennt man das Wachs­tumsstörungen, es gibt aber ebenso emotionale, psychische, mentale, und erst recht geistige und spirituelle Wachstumsstörungen. Die größten Heilungschancen haben daher immer diejeni­gen Patienten, die ihre Krankheit zum Anlaß nehmen, ihr Leben von Grund auf zu ändern und sich weiterzuentwickeln.

Schon bei Hippokrates finden wir dieses Grundge­setz: "Wenn du nicht bereit bist, dein Leben zu ändern, kann dir nicht geholfen werden." Im heutigen ärztlichen Eid des Hippokrates ist das offenbar nicht mehr enthalten.

Auch für Goethe sind Krankheiten Anlaß zur Selbstbe­sinnung, Anstoß für Wand­lung und Neu­beginn. "Unglück ist auch gut. Ich habe viel in meiner Krankheit gelernt, das ich nirgends in meinem Leben hätte lernen können."

 

Spiritualität und Gesundheit

 

Nicht nur die Medizin, auch die Tiefenpsychologie beschäftigte sich lange Zeit nur mit der kranken Psyche, obwohl es viel spannender wäre, die gesunde Psyche und deren Weiterent­wicklung über den "Normalzustand" hinaus zu verfolgen. Die fast einzige Ausnahme war C.G. Jung. Er orientierte sich an der Persönlichkeitsentwick­lung des gesunden Menschen, die er In­dividua­tion nannte.

Erst die Humanistische Psy­cho­logie in Amerika unter Abraham Mas­low sprengte den Rahmen der Psychoanalyse derart, daß wieder jene Bereiche, die schon Jung er­forschte, in den Blick­punkt gerieten. Maslow studierte den ge­sunden Menschen und beschäftigte sich mit dem per­sönlichen Wachstum und der "Selbstverwirklichung" durch die Entfaltung der inneren Mög­lichkeiten des Menschen.

Maslows gesunde Menschen berichteten auf­fal­lend häufig, daß sie so etwas wie "mystische" Erfah­rungen gehabt hätten, Momente von tiefer Ehr­furcht, Ekstase oder Seligkeit. In diesen Erfahrungen war jede Distanz und jedes Getrenntsein von der Welt ver­schwunden, und an de­ren Stelle trat die Ein­heit mit allen und allem. Ein Beweis dafür, daß man die zwei Welten, die materielle und die geistige, zwar unterscheiden kann, daß sie aber in Wirklichkeit nicht getrennt sind.

Maslow nannte diese Erfahrungen "Gipfelerlebnisse" (peak experiences), und es er­wies sich, daß dies keine "übernatürlichen", sondern ganz natürliche Erlebnisse sind, die sogar weiter verbreitet sind, als er je angenommen hatte. Man findet sie sogar beim Durch­schnittsmenschen, wahrschein­lich bei jedem Menschen, aber nicht jeder akzep­tiert sie, nicht jeder läßt sie zu. Viele wagen gar nicht, darüber zu sprechen, weil sie meinen, daß sie da nicht ganz normal ge­wesen seien, obwohl das vielleicht der einzige wirklich klare Augen­blick ihres Lebens war.

Heute geht der österreichische, in Californien lebende Benediktinermönch David Steindl-Rast davon aus, daß jeder Mensch solche mystischen Erfahrungen hat, die ein­fach das Überschreiten von Bewußtseinsgrenzen sind. Das muß gar nicht plötz­lich und über­wältigend im Sinne einer ganz außergewöhnlichen Erfahrung ge­schehen, es kann einem auch ganz behutsam und unbe­merkt widerfahren. Steindl-Rast vergleicht es mit dem Frühlingsanfang, der oft von einem Tag zum an­deren mit einem Knalleffekt von der Na­tur Besitz ergreift. Doch in anderen Jahren kommt der Frühling so allmählich, so nach und nach, daß man hinterher gar nicht sagen könn­te, wann es denn geschehen wäre. Aber das ist dann auch gar nicht so wichtig, wenn er nur schließlich da ist.

Und Steindl-Rast findet überall solche Beispiele mystischer Erfahrungen, etwa in Eugene O'Neills Theaterstück "Eines langen Tages Reise in die Nacht". Da erzählt Ed­mund Tyron sei­nem Vater von einem Erlebnis, das diese mystische Erfahrung ver­an­schaulicht:

"Du hast mir da ein paar Höhepunkte aus deinen Memoiren erzählt. Willst du meine hören? Sie haben alle mit dem Meer zu tun. Ich will dir erzählen. Von damals, als ich auf der Square­head, die nach Buenos Aires auslief, Matrose war. Vollmond! Der alte Kahn macht vierzehn Knoten. Ich liege vorne an Bugspriet, schau achtern aus, das Wasser schäumt unter mir, und die Maste über mir türmen sich hoch auf mit ihren weißen Segeln im Mondlicht. Ich war wie trunken von all der Schönheit und dem singenden Rhythmus des Ganzen. Für einen kurzen Augenblick verlor ich mich selbst - wirklich ich verlor mein Leben. Ich war befreit, war frei! Ich löste mich auf in Meer, wurde weißes Segel und fliegende Gischt, wurde Schönheit und Rhythmus, Mond­licht und das Schiff und der hohe mit Sternen übersäte Himmel. Ich gehörte, ohne Gegen­wart und ohne Zukunft, mit hinein in den Frieden und die Einheit und in eine wilde Freude, in etwas, das größer war als mein eigenes Leben, größer als das Menschen­le­ben überhaupt, ich gehörte zum Leben selbst! Zu Gott, wenn du willst ...

Und dann noch ein paarmal sonst in meinem Leben, wenn ich weit ins Meer hinaus ge­schwom­men war oder allein an einem Strand lag, habe ich dasselbe Erlebnis ge­habt. Ich wurde die Sonne, wurde der heiße Sand, der grüne Seetang am Fels ver­ankert, auf- und ab­schwingend mit Ebbe und Flut. Wie die Vision eines Heiligen vom Glück kam es über mich. Wie wenn eine unsichtbare Hand den Schleier weggezogen hätte von den Dingen. Für eine Sekunde sieht man - und wenn man das Geheimnis erkennt, ist man selbst das Geheimnis. Für einen Moment ist Sinn! Dann läßt die Hand den Schleier fallen, und man ist wieder allein, verloren im Nebel und stol­pert weiter, irgendwohin, ohne zu wissen warum."

Das Sich-Selbst-Verlieren, das Einssein mit allem, das zum Ganzen Dazugehören, ein tiefes Zugehörigkeitsgefühl, das Stillstehen der Zeit, das alles sind Schlüssel­stellen, die jedem ir­gendwo vertraut sind. Oder das Befreit-Sein. Steindl-Rast: "Für einen Augenblick war ich be­freit. Es war, als käme ich aus einem Käfig. Die meiste Zeit be­finde ich mich in einem Käfig, in meinem eige­nen Käfig. Ich selber bin es, der mich einsperrt. Aber einen Augenblick lang trete ich aus diesem Käfig heraus, bin ich frei. Aus irgendeinem unbe­kannten Grund gehe ich wieder in den Käfig hinein. Viel­leicht fühle ich mich darin siche­rer."

 

Stanislav Grof weist darauf hin, daß Ereignisse, die in erster Linie spiritueller und religiöser Natur sind, oft eine ganz gewaltige heilsame Wirkung haben, wodurch auch die Beziehung zur Medizin hergestellt ist. Eine Medizin, die Seelisches und Geistiges in ihre Praxis einbezieht, ist ebenfalls eine Brücke zu Religiosität, Spiri­tualität und Mystik. Um­gekehrt ist eine wirkliche Heilung (= Ganzwerdung) des Men­schen unter Ausklam­merung der spirituellen Ebene gar nicht möglich.

Allen ist klar, daß ein Muskel verkümmert, wenn er nicht gebraucht, geübt, trainiert wird. Aber auch unsere Seele verkümmert, wenn sie nicht im Einfühlen, Mitfühlen, Nächstenliebe usw. geübt wird. Wenn uns Beton und nicht mehr Natur umgibt. Wenn das Geldverdienen mehr Zeit und Energie in Anspruch nimmt als die Kommunikation mit anderen Menschen.

Und ebenso verkümmert unsere spirituelle Potenz, die wir alle haben, wenn wir un­seren Sinn für die Einheit aller Wesen, für die kosmische Harmonie, für das All-Ein-Sein und die Bezie­hung zum Ursprung nicht pflegen und üben.

Seelenlosigkeit und Sinn-Entleertheit werden dann zu Krankheitsbildern des moder­nen Men­schen, die sich bis in körperliche Symptome hinein ausdrücken und sicher zumin­dest Mitursa­che vieler sogenannter Zivilisationskrankheiten sind.

Die Frage "Hat Medizin etwas mit Gesundheit zu tun?" mündet letztlich darin, daß wir heute mit einem Weltbild aufwachsen, in dem das eigentlich Menschliche keinen Platz mehr hat. Dies ist die eigentliche Krankheit unserer Zeit.

Und die kann natürlich von einer Medizin, die ebenfalls dieses mechanistische, materialistische Weltbild vertritt, nicht geheilt werden. Was wir heute brauchen, ist ein neues Weltbild, das der ganzen, komplexen Wirk­lichkeit gerecht wird - und auf der Basis dieses neuen Weltbildes na­türlich auch eine neue Medizin.

Robert Harsieber

 

Philosoph - Journalist - Verleger

 

„Die Art,

wie wir die Welt sehen,

erleben und in ihr agieren,

hängt ab von einem ‚Denkrahmen‘.

Er zeigt den für uns wichtig gewordenen, gewohnten Ausschnitt der Wirklichkeit.

Er schließt ein

und er grenzt aus.

In diesen Denkrahmen

sind wir hineingewachsen.

Wir können aber auch

über ihn hinauswachsen.“