Gesundheit und

 

Bewusstseinsentwicklung in

 

einer nachhaltigen Gesellschaft

 

Robert Harsieber

(Vortrag beim Symposium „Gesundheit in einer zukünftigen nachhaltigen Gesellschaft“, Institut für Verfahrenstechnik, Technische Universität Graz 1994)

 

 

Nachhaltiges Handeln kommt dann zustande, wenn der gemäß seiner inneren Natur lebende und sich entwickelnde Mensch sich in die natür­lichen Vorgänge der Mitwelt einpasst.

 

Der Mensch muss als Teil der Natur verstan­den werden, sein Tun wirkt sich auf die Natur aus und von dort auch auf ihn zurück. Die ökologischen Systeme bilden die Lebensgrundlage des Menschen. Eine zerstörerische Einwirkung auf die Natur wirkt sich langfristig ebenso zerstöre­risch auf den Menschen aus. Nachhaltiges Handeln soll die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen auch für die kommenden Generationen erhalten.

 

1. Nachhaltigkeit betrifft daher Wirtschaft und Umwelt sowie die damit verbundene Politik, wobei vor allem auch die langfristigen Auswirkungen des Handelns die Um­welt nicht nachteilig beeinflussen dürfen.

2. Nachhaltigkeit betrifft auch das gesellschaftliche System (lokal wie global), denn wenn eine Gruppe auf Kosten der anderen lebt (wie es bisher immer der Fall war), dann ist Nachhal­tigkeit nicht gegeben.

3. Nachhaltigkeit betrifft aber auch den Menschen selbst, als Organismus. Was für die Umwelt gilt, das gilt im selben Maße auch für die Innenwelt. Wer exzessiv mit seinen Ressourcen umgeht (körperlich, emotional, mental, geistig, spirituell), wird kurz- oder langfristig seine Innenwelt aus dem Gleichgewicht bringen und damit mehr oder weniger krank werden.

4. Nachhaltigkeit hat also mit Gesundheit zu tun. Gesundheit aber hat mit Bewusstseinsentwicklung zu tun. Denn der Mensch ist kein statisches, sondern ein dynami­sches, sich entwic­keln­des Wesen. Ein Mensch, der in seiner Entwicklung stagniert, wird krank. Physisch nennt man das Wachstumsstörungen, es gibt aber ebenso emotio­nale, psychische, mentale und erst recht geistige und spirituelle Wachstumsstörungen.

5. Nachhaltigkeit muss alle Bereiche in und um uns umfassen, denn alles hängt mit al­lem zu­sammen. Es kann keine Sanierung des Wirtschafts-, Gesellschafts- oder Ge­sund­heits­systems als singuläre Aktion geben. Der Weg der "Optimierung" nur in einem be­stimm­ten Bereich muss fehl­schlagen, weil eine Isolierung von anderen Bereichen gar nicht möglich ist.

Es ist wahrscheinlich das wesentlichste Moment der heutigen Krise unserer indu­striel­len Konsumgesellschaft, dass Teilbereiche sich in (unnatürlicher) Isolation ent­wickeln und die Aus­wirkungen auf das Gesamtsystem niemandem bewusst sind, oder die Ver­antwort­lichen bewusst da­vor die Augen schließen.

Wir können unser westliches Wirtschaftssystem nicht sanieren und optimieren, wenn damit das Ungleichgewicht zur Dritten Welt aufrechterhalten oder noch ver­größert wird. Hier wird jede ein­seitige "Verbesserung" zur Erhöhung der Spannung führen, die sich eines Tages explosionsartig entladen und unser "verbessertes" System in die Luft jagen kann.

Wir können unser soziales System nicht "verbessern", die Kriminalität nicht wirk­sam eindäm­men usw., wenn in uns und um uns herum alles bleibt wie es ist. Die besten Umwelt­gesetze und sogar deren Exekution helfen uns wenig, wenn die verschmutzte nachbar­liche Luft vor unseren Grenzen nicht Halt macht.

Und alle möglichen Maßnahmen, die wir setzen oder setzen könnten, werden wenig helfen, wenn wir uns nicht selbst ändern. Denn es gibt nicht "die Wirtschaft", "die Ge­sellschaft", "die Politik", sondern nur die Menschen, die diese Systeme geschaffen haben und am Leben erhalten. Eine defekte Umwelt deutet daher auf ein defektes Weltbild hin, denn die Welt ist nicht anders als wir sie sehen und als wir sie in-formieren.

Nicht die Industrialisierung, sondern das jeweilige Weltbild ist daher der Grad­messer für eine Zivilisation.

 

 

Das Weltbild der westlichen Welt

 

Die griechische Philosophie, die christliche Religion und die naturwissenschaftliche Welt­sicht haben unsere europäische Zivilisation geprägt. So die allgemein akzeptierte Ansicht.

Doch des griechischen Einflusses sind wir uns heute gar nicht mehr bewusst, von christlichen Werten ist zwar viel die Rede, die Alltagspraxis ist aber denkbar unchrist­lich, und woher die Na­turwissenschaft kommt, was sie leistet und was sie nicht leisten kann, danach fragt kaum jemand.

Dass einmal - sogar für relativ lange Zeit - der islamische Einfluss in Europa domi­nie­rend war, dass uns die griechische Philosophie über arabische Übersetzungen er­reichte, weil die Wis­sen­schaftssprache damals nicht Latein, sondern Arabisch war, das haben wir sehr gründlich ver­drängt.

Dass das Christentum sich nicht in Theologie und Kirchenmoral erschöpft, dass es so etwas wie eine christliche Mystik bis in unser Jahrhundert herein gab, ist kaum jeman­dem bewusst. Dass das Christentum in seiner heutigen Form erst so Anfang des zweiten Jahr­tausends ent­standen ist - vorher gab es eine Vielfalt von verschiedenen christlichen Strö­mungen - das wissen nur Kir­chen­kritiker. Doch wie sagte einer der größten deut­schen Theologen unseres Jahrhunderts, Karl Rahner, in seinen späten Jahren: "Das Christentum im dritten Jahrtausend wird entweder ein mystisches sein, oder es wird nicht mehr sein."

 

Jeder weiß, dass unsere moderne Weltsicht eine naturwissenschaftliche ist. - Was das ist, küm­mert niemanden. Oft nicht einmal die Wissenschaftler.

Das naturwissenschaftliche Weltbild ist vor etwa 350 Jahren entstanden - basierend auf einer mehrfachen Beschränkung.

Descartes unterschied zwischen Geist und Materie. Daraus wurde erst später eine Trennung von Geist und Materie, von Subjekt und Objekt, und noch später die Leug­nung des Geistigen.

Galilei beschränkte die Methode auf das Messbare und auf das Experiment (eine iso­lierte und stark vereinfachte Situation).

Newton errichtete auf dieser Basis ein komplettes System, das sich - als Zusammen­fas­sung der damals noch bewussten Beschränkung - auf Materie in Raum und Zeit be­zog und sich nur darauf beziehen konnte.

Eine Leugnung all dessen, was außerhalb der Materie in Raum und Zeit liegt, war da­mals nicht beabsichtigt. Descartes war Theologe, Galilei wollte nur von der Kirche un­behelligt for­schen und Newton würde man heute eher als Esoteriker bezeichnen. Zu die­ser Leugnung des Geistigen kam es erst im 19. Jahrhundert, als man glaubte, mit der Ent­dec­kung der kleinsten "Bausteine" der Materie alles - auch das Gehirn und den Geist -restlos erklären zu können.

Die Welt als große Maschine, deren Bestandteile man nur zu kennen, deren Mecha­nismus man nur zu erklären braucht; und der Mensch ebenfalls als Maschine, de­ren ein­zelne Organe man bei Nichtfunktionieren nur reparieren muss - das ist unser heutiges mechanistisches Weltbild.

Die Ernüchterung kam bereits um die Jahrhundertwende, als man auf der Ebene der Ele­mentar­teilchen entdecken musste, dass sich dort überhaupt nichts ausmachen ließ, was den Begriff "Bausteine" verdient. Als sich herausstellte, dass die Kategorien "Raum", "Zeit", "Kau­salität" usw. im Mikro- wie im Makrokosmos ihre gewohnte Bedeutung ver­lieren. Und dass die geforderte Objektivität der Naturwissenschaft eine Fiktion ist.

Das Subjekt war in dieser naturwissenschaftlichen Methode ausgeklammert, das heißt, der Mensch kommt in der naturwissenschaftlichen Beschreibung der Welt gar nicht vor. Selbst wenn wir über die Natur - im naturwissenschaftlichen Sinn - alles wis­sen, wissen wir über das eigentlich Menschliche, wohl auch über das eigentlich "Natürliche", noch gar nichts. Der große weiße Fleck auf unseren Landkarten sind wir selbst, sozusagen der blinde Fleck dieser Me­thode.

Aber auch über die Natur als Ganzes wissen wir recht wenig. Ist doch die Naturwis­sen­schaft darauf angewiesen, alles in kleine und kleinste Teile zu zerlegen, weil sie nur mit einer ganz klei­nen Zahl von Variablen arbeiten kann. Erst die Chaostheorie kann mit komplexeren Systemen umgehen. Erst an den Grenzen des naturwissenschaftlich Fassbaren (im subatomaren wie im astro­nomischen Bereich und in der Komplexität) werden Gesetzmäßigkeiten entdeckt, die weit über die ursprünglichen Intentionen der Naturwis­senschaft hinausreichen, die bereits auf ein "Jenseits" dieses Bereichs hindeuten.

Es gibt - sogar im physikalischen Bereich - so etwas wie eine Raum- und Zeitlosig­keit, eine Akausalität. Alles hängt mit allem zusammen, alles wirkt auf alles. Wie in der Außenwelt, so auch im Inneren des Menschen.

Unser bisheriges lineares, sezierendes, analytisches Weltbild ist an diesem Punkt be­reits aus­gestiegen. Es ist auch nicht mehr in der Lage, die komplexen Probleme unserer Zeit zu lösen. Es hat seine Problemlösungskapazität verloren.

Tatsächlich leben wir heute in einer Zeit des Umbruchs, in der Krise unseres gewohn­ten Weltbildes, das wir übernommen haben, ohne je viel darüber nachzudenken. Ein öko­logi­sches Denken beginnt langsam zu keimen. Ein völlig neues, ganzheitliches Weltbild ist im Entstehen.

 

 

Gesundheit, Heilung und Entwicklung

 

Unser gesamtes Leben ist bislang auf Materielles hin ausgerichtet. Hier haben wir Hochtechno­logie und bewundernswerte Leistungen von Wissenschaft und Technik. Dies kann man nur aner­ken­nen. Vergessen darf man allerdings nicht, dass die mensch­lichen Probleme damit nicht lösbar, ja nicht einmal angesprochen sind.

Selbst unser Gesundheitssystem, in dem es doch um den Menschen gehen sollte, ist einseitig auf das Körperliche, Messbare ausgerichtet. So befasst sich die Schulmedizin, die sich als naturwis­senschaftliche Medizin versteht, damit, aus der Norm gefallene Werte wieder in die Norm zu bringen. Hier ist von Messwerten die Rede, nicht von Menschen.

Der Mensch ist nicht dann gesund, wenn alle klinischen Werte in der Norm sind, wenn er sich körperlich fit fühlt. Gesundheit ist nach WHO-Definition das körperliche, seeli­sche, soziale und spirituelle Wohlbefinden des Menschen. Diese Definition ist zwar fortschrittlich, geht sogar weit über das aktuelle Gesundheitssystem hinaus, ist aber immer noch eine stati­sche, dem Menschen nicht ge­recht werdende Definition.

Der Mensch ist nicht nur eine Einheit von Körper, Seele und Geist, diese Einheit ist auch eine dynamische. Man kann den Menschen nicht definieren als etwas, das so oder so ist, sondern der Mensch ist vor allem in Entwicklung.

Die größten Heilungschancen haben daher immer die Patienten, die ihre Krankheit zum Anlass nehmen, ihr Leben von Grund auf zu ändern, sich weiterzuentwickeln.

Schon bei Hippokrates finden wir dieses Grundge­setz: "Wenn du nicht bereits bist, dein Leben zu ändern, kann dir nicht geholfen werden." Im heutigen ärztlichen Eid des Hippokrates ist das offenbar nicht mehr enthalten.

Auch für Goethe sind Krankheiten Anlass zur Selbstbe­sinnung, Anstoß für Wand­lung und Neu­beginn. "Unglück ist auch gut. Ich habe viel in meiner Krankheit gelernt, das ich nirgends in meinem Leben hätte lernen können."

 

Nachhaltigkeit im persönlichen Bereich ist die Entwicklung gemäß der inneren Na­tur des Men­schen. Dank der Generalisierung des naturwissenschaftlichen Weltbildes, in dem der Mensch als Subjekt ja nicht einmal vorkommt, sind wir auf diesem inneren Gebiet von Nachhaltigkeit aber noch viel weiter entfernt als auf dem Gebiet der äußeren Um­welt.

 

Was ist Gesundheit?

1. Im körperlichen Sinne, dass alle Organe und Funktionen des biophysikalischen Systems ihrer Bestimmung gemäß harmonisch zusammenstimmen. Wobei die einzel­nen Organe nicht getrennt voneinander und nicht getrennt vom Gesamtsystem gesehen wer­den können.

2. Nach der traditionellen chinesischen Philosophie kommt das harmonische Fließen von Qi in den entsprechenden Energiebahnen oder Meridianen hinzu, ein System, das ir­gendwo zwischen Physis und Psyche einzuordnen ist, für das wir im Westen aber keine Kategorie haben. Es gab zwar auch in Europa ganz ähnliche Systeme (z. B. im Umkreis der Alchemie), die aber wie alles nicht in das gewohnte Paradigma Passende hierorts immer ignoriert, ver­drängt oder zumindest gründlich missverstanden wur­den.

3. Im psycho-sozialen Sinne eine harmonische emotionale und mentale, personale und interper­sonale Entwicklung, das harmonische Zusammenspiel von Bewusstem und Unbewusstem im per­sönlichen wie im familiären und gesellschaftlichen Leben.

4. Im religiösen oder spirituellen Sinne die harmonische Beziehung zu transpersona­len, geisti­gen oder spirituellen Bereichen.

 

Was macht uns derzeit krank?

Es gibt ja kaum jemand, der - ganz gleich nach welcher Definition - wirklich gesund ist. (Wobei diese "wirkliche Gesundheit" wahrscheinlich auch ungesund wäre, weil sie keine Entwick­lung hervorbringen könnte).

Wir leben ungesund, ernähren uns ungesund, in einer Umwelt, die wir schon soweit malträtiert haben, dass sie für uns zum Teil schon toxisch wirkt. Der Arbeitsrhythmus ist zum Teil krank­machend, einseitig auf Erwerb und Konsum ausgerichtet, sodass alle ande­ren, menschlicheren Be­reiche in den Hintergrund gedrängt oder überhaupt elimi­niert werden.

Die meisten leben so, als wäre das Unbewusste nie entdeckt worden und als wäre Spiri­tualität etwas durch die Naturwissenschaft längst Überholtes. Mit dem Bewusstsein be­schäftigt sich kaum jemand (nicht einmal die Psychologie), es wird ja meist als bloße Gehirnfunktion gesehen.

Und der Mensch wird als statisches Wesen betrachtet, das sich nicht weiterentwickelt. Schon die Entwicklung der Lebewesen im Darwin'schen Sinne war für diese Mentalität ein Skandal ohnegleichen. Inzwischen haben wir damit leben gelernt, ohne jedoch dar­über nachzudenken, dass die Entwicklung auch weitergehen könnte.

All dies wirkt sich auf alle der vier oben genannten Bereiche negativ und krankmachend aus.

 

Wie könnte ein nachhaltiger Umgang mit Gesundheit aussehen?

-  Im Bereich des Organismus und der Umwelt Rückkehr zu natürlichen Nahrungsmit­teln, natürlichen Produktionsweisen, Abkehr von Massenproduktion und energieauf­wän­digen Trans­portwegen, Rückkehr - wo möglich - zur Nahversorgung. Das klingt so selbst­verständlich, erfor­dert aber ein gründliches Umdenken und eine radikale Umstel­lung im Wirtschaftssystem.

-  Im Bereich der bioenergetischen Strukturen ein Leben in natürlichen Rhythmen of­fen flie­ßender Energien (Atem, Qi, Arbeit/Freizeit, Spannung/Entspannung, Außen-/Innenorientierung).

-  Im Bereich des Psycho-Sozialen die Offenheit zum Unbewussten, zum Fremden, zum Ande­ren, zu anderen Menschen, Gesellschaften und Kulturen, Abbau von Vorur­teilen und Pflege von Toleranz und Mitgefühl.

-  Im Bereich des Religiös-Spirituellen eine Offenheit zum Transpersonalen, zum Geisti­gen, zur Einheit allen Lebens, zum kosmischen Bewusstsein, zum Kern aller Re­li­gionen.

 

Wie kann dieses nachhaltige Umgehen mit Gesundheit verwirklicht werden?

Dieses Umdenken muss in allen Lebensbereichen Fuß fassen:

-  In einem Bildungswesen, das auf die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und nicht auf vordergründigen Konsum von Wissen ausgerichtet ist.

-  In der Arbeitswelt, die ebenfalls der Persönlichkeitsentwicklung dient und nicht dem aus­schließlichen Gelderwerb und der Gewinnmaximierung.

-  In der frei verfügbaren Zeit, die ausgeweitet werden muss und in der auch ein Angebot zur sinnvollen Nut­zung dieser freien Zeit zur Verfügung steht.

-  Im Gesundheitswesen, das ein wirkliches Gesundheitswesen werden müsste, bis jetzt ist es eher ein Krankheitswesen. Gesundheitsfördernde Aktivitäten sollten gefördert werden. Die Ärzte sollten sich als Gesundheitsberater verstehen. Die Medizin müsste eine ganz­heitliche Medizin wer­den, die alle Bereiche des menschlichen Daseins einbezieht.

 

 

Wie könnte eine solche ganzheitliche Medizin aussehen?

Ganzheitsmedizin ist nicht ein anderes Wort für Alter­nativmedizin (heute spricht man eher von Komplementärmedizin), son­dern

 

1. Ganzheitsmedizin = Schulmedizin + Komplementärmedizin

Das wäre die erste, sozusagen horizontale Dimension. Die Methoden stehen gleich­be­rechtigt ne­benein­ander.

Diese Definition ist aber nicht ausreichend, denn es ist nicht jeder Arzt, der nadelt oder homöopathi­sche Medikamente verschreibt, dadurch automatisch ein Ganzheits­mediziner. Außer­dem geht es in einer ganzheitlichen Medizin nicht so sehr um einen Streit der Me­thoden, sondern um ein neues Weltbild, das den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellt.

Daher muss noch eine zweite, vertikale Dimension hinzukommen, die das Weltbild be­trifft:

 

2. Der Ganzheitsmediziner behandelt den Menschen - und zwar ganz bewusst - als Ganzes, als Einheit von Körper, Seele und Geist.

Schließlich kommt noch eine dritte Dimension hinzu, nämlich eine dynami­sche:

 

3. Heilung ist nicht die Wiederherstellung des Zustandes vor der Erkrankung, sondern Heilung ist immer Entwicklung, ist immer ein Lernprozess, ist immer Bewusstseinserweiterung.

 

In einer ganzheitlichen Medizin ist Heilung nicht mög­lich, indem man nur Sympto­me bekämpft und beseitigt. Der Fehler wird damit nämlich nur beseitigt, auf die Seite, näm­lich ins Unbewusste hin ver­schoben. Damit ist aber nichts wirklich gewonnen, denn der oft im Psychischen liegende Fehler wird sich bei nächster Gelegenheit wieder körper­lich mani­festie­ren. In einem Rückfall oder einem anderen Symptom, das vom nächsten Arzt als neue Krankheit diagno­stiziert wird, obwohl es sich nach wie vor um das in Wirklich­keit unbehandelte alte Problem handelt.

Die Krankheit ist äußerer Ausdruck eines Pro­blems, das, wenn es nicht bewusst be­ar­beitet wird, sozusagen in den Körper rutscht und sich dort als Symptom mani­festiert. Wer sich fragt, was dieses Symptom bedeutet, der damit etwas über sich lernt und das, "was ihm fehlt" ergänzt, der ist wirklich geheilt und damit durch die Krankheit zu ei­ner reife­ren Persönlichkeit ge­worden. Ganzheitsmedizin hat damit nicht nur mit kom­ple­men­tären Methoden zu tun, sondern auch mit der Einbeziehung des Seeli­schen und Geistigen in die Medizin.

Da sie alle Bereiche des menschlichen Seins umfasst, ist Ganzheitsmedizin immer auch eine Annäherung von Medizin an Tiefenpsychologie und Psychotherapie, letzt­lich auch an Religion und Spiritualität.

 

 

Bewusstseinsentwicklung

 

Die (Wieder-)Entdeckung des Unbewussten durch Sigmund Freud stellt eine Art kopernikani­scher Wende in der abendländischen Wissenschaft dar. Nicht das bewusste Ich ist das Zentrum der Persönlichkeit, sondern es ist nur die Spitze eines Eisbergs, der zum Groß­teil im Unbewussten liegt. Dies ist eine so radikale Umkehr unseres Denkens, dass die meisten auch heute immer noch so leben, als wäre das Unbewusste nie entdeckt worden.

Die klassische Psychoanalyse beschäftigte sich immer mit der kranken Psy­che, Hei­lung wurde nur als die Wiedereingliederung in das "normale" Leben angesehen.

Tiefenpsychologie und Psychotherapie sind aber nichts Einheitliches, sondern ein Sammelbec­ken ver­schiedenster Strömungen, und das bereits seit ihren An­fängen. Nach Jung gibt es nicht nur ein persönliches, sondern auch ein kollektives Unbewusstes, das allen Menschen gemeinsam ist. Heilung ist für ihn niemals nur die Ein­gliederung in das "normale" Leben oder die Rückkehr zum Zustand vor der Erkrankung, sondern Heilung ge­schieht durch den Zugang zu einer neuen Form der Wahrnehmung, einer außerge­wöhnlichen Erfahrung des Geheimnisvollen (Numinosen): "Es ist so, dass der Zu­gang zum Numinosen die eigentliche Therapie ist, und insoweit man zu den numino­sen Erfah­rungen gelangt, wird man vom Fluch der Krankheit erlöst."

Ziel der Jung'schen Psychologie ist eine Evolution der Persönlichkeit, die Integrati­on des Schattens, der ver­drängten Inhalte des Unbewussten, der Anima (des Ani­mus), des weiblichen Anteils im Mann (des männlichen Anteils in der Frau), der Vereinigung der Gegensätze, der Indi­viduation, der Verwirklichung des Selbst. (Das Selbst als Zentrum des Ganzen, während das Ich nur Zentrum des bewussten Anteils ist).

Das zentrale Thema des Krankseins ist eben der von Jung so bezeichnete Schatten. Er gehört zur Persönlichkeit wie der Schatten im Sonnenlicht zu jeder Figur dazuge­hört. Während das Ich all das umfasst, was wir an uns akzeptieren, womit wir uns identifi­zieren, ist im Schatten alles das versammelt, was wir an uns nicht wahrhaben wollen, was wir ignorieren, nicht akzeptieren und lieber übersehen.

Daher ist niemand sonderlich begeistert, wenn er den im Schatten angesammelten Themen wieder begegnet. Genau das aber geschieht im Falle einer Krankheit. Wenn ein Thema aktuell wird, mit dem wir uns bewusst nicht auseinandersetzen wollen, sinkt dieses Thema in den seeli­schen Bereich und schließlich weiter in den Körper. Wie der Körper als Ganzes Ausdruck des Seelischen und Geistigen ist, so ist Krankheit Aus­druck von seelisch-geistigen Fehlhaltungen, die wir nicht wahrhaben wollen.

 

Lange Zeit wurde aber nur der Weg Freuds weiterver­folgt, während das, was Jung vorgegeben hat, bis heute nicht ganz aufgearbeitet wurde. Erst die Humanistische Psy­cho­logie in Amerika unter der Führung von Abraham Mas­low sprengte den Rahmen der Psychoanalyse derart, dass wieder jene Bereiche, die Jung erforschte, in den Blick­punkt gerieten. Maslow studierte den ge­sunden Menschen und beschäftigte sich mit dem per­sönlichen Wachstum und der "Selbstverwirklichung" durch die Entfaltung der inneren Möglichkeiten des Menschen.

Er untersuchte dazu auch nicht die Kranken oder die Durchschnitts­menschen, sondern die ge­sündesten Ex­emplare, die er finden konnte. Und deren Eigenschaften erwiesen sich als völlig an­ders im Vergleich zum Durchschnitt. Maslows extrem gesunde Menschen berichteten auf­fal­lend häufig, dass sie so etwas wie "mystische" Erfah­rungen gehabt hätten, Momente von tiefer Ehr­furcht, Ekstase oder Seligkeit. In diesen Erfahrungen war jede Distanz und jedes Getrenntsein von der Welt ver­schwunden, und an deren Stelle trat die Ein­heit mit allen und allem.

Maslow nannte diese Erfahrungen "Gipfelerlebnisse" (peak experiences), und es er­wies sich, dass dies keine "übernatürlichen", sondern ganz natürliche Erlebnisse sind, die weiter verbreitet sind, als er je angenommen hatte. Man findet sie sogar beim Durch­schnittsmenschen, wahrschein­lich bei jedem Menschen, aber nicht jeder akzep­tiert sie, nicht jeder lässt sie zu. Viele wagen gar nicht, darüber zu sprechen, weil sie meinen, dass sie da nicht ganz normal gewesen seien, obwohl das vielleicht der einzig klare Augen­blick ihres Lebens war.

 

Heute geht der österreichische, in Kalifornien lebende Benediktinermönch David Steindl-Rast davon aus, dass jeder Mensch solche mystischen Erfahrungen hat, die ein­fach das Überschreiten von Bewusstseinsgrenzen sind. Das muss gar nicht plötzlich und über­wältigend im Sinne einer ganz außergewöhnlichen Erfahrung geschehen, es kann einem auch ganz behutsam und unbemerkt widerfahren. Steindl-Rast vergleicht es mit dem Frühlingsanfang, der oft von einem Tag zum an­deren mit einem Knalleffekt von der Na­tur Besitz ergreift. Doch in anderen Jahren kommt der Frühling so allmählich, so nach und nach, dass man hinterher gar nicht sagen könnte, wann es denn geschehen wäre. Aber das ist dann auch gar nicht so wichtig, wenn er schließlich da ist.

Und Steindl-Rast findet überall solche Beispiele mystischer Erfahrungen, etwa in Eugene O'Neills Theaterstück "Eines langen Tages Reise in die Nacht". Da erzählt Ed­mund Tyron seinem Vater von einem Erlebnis, das diese mystische Erfahrung ver­an­schaulicht:

"Du hast mir da ein paar Höhepunkte aus deinen Memoiren erzählt. Willst du meine hören? Sie haben alle mit dem Meer zu tun. Ich will dir erzählen. Von damals, als ich auf der Square­head, die nach Buenos Aires auslief, Matrose war. Vollmond! Der alte Kahn macht vierzehn Knoten. Ich liege vorne an Bugspriet, schau achtern aus, das Wasser schäumt unter mir, und die Maste über mir türmen sich hoch auf mit ihren weißen Segeln im Mondlicht. Ich war wie trunken von all der Schönheit und dem singenden Rhythmus des Ganzen. Für einen kurzen Augenblick verlor ich mich selbst - wirklich ich verlor mein Leben. Ich war befreit, war frei! Ich löste mich auf in Meer, wurde weißes Segel und fliegende Gischt, wurde Schönheit und Rhythmus, Mond­licht und das Schiff und der hohe mit Sternen übersäte Himmel. Ich gehörte, ohne Gegen­wart und ohne Zukunft, mit hinein in den Frieden und die Einheit und in eine wilde Freude, in etwas, das größer war als mein eigenes Leben, größer als das Menschen­leben überhaupt, ich gehörte zum Leben selbst! Zu Gott, wenn du willst ... Und dann noch ein paarmal sonst in meinem Leben, wenn ich weit ins Meer hinaus geschwom­men war oder allein an einem Strand lag, habe ich dasselbe Erlebnis gehabt. Ich wurde die Sonne, wurde der heiße Sand, der grüne Seetang am Fels verankert, auf- und abschwingend mit Ebbe und Flut. Wie die Vision eines Heiligen vom Glück kam es über mich. Wie wenn eine unsichtbare Hand den Schleier weggezogen hätte von den Dingen. Für eine Sekunde sieht man - und wenn man das Geheimnis erkennt, ist man selbst das Geheimnis. Für einen Moment ist Sinn! Dann lässt die Hand den Schleier fallen, und man ist wieder allein, verloren im Nebel und stol­pert weiter, irgendwohin, ohne zu wissen warum."

Das Sich-Selbst-Verlieren, das Einssein mit allem, das zum Ganzen Dazugehören, ein tiefes Zugehörigkeitsgefühl, das Stillstehen der Zeit, das alles sind Schlüsselstellen, die jedem irgendwo vertraut sind. Oder das Befreit-Sein. Steindl-Rast: "Für einen Augenblick war ich befreit. Es war, als käme ich aus einem Käfig. Die meiste Zeit be­finde ich mich in einem Käfig, in meinem eige­nen Käfig. Ich selber bin es, der mich einsperrt. Aber einen Augenblick lang trete ich aus diesem Käfig heraus, bin ich frei. Aus irgendeinem unbe­kannten Grund gehe ich wieder in den Käfig hinein. Vielleicht fühle ich mich darin siche­rer."

 

Der Begriff der Selbstverwirklichung, wie ihn die Huma­nistische Psychologie geprägt hatte, er­wies sich als zu sehr an die persönliche Entwicklung gebunden. Doch immer mehr kristallisierte sich auch in der Psychologie heraus, dass es Bewusst­seinsstufen gibt, die weit über das Persönliche hinaus­gehen. Daher begründeten Abraham Maslow, Stanis­lav Grof und andere 1968 die Schule der Transpersonalen Psychologie.

Nach Grof verfügt das menschliche Bewusstsein über zwei ganz konträre oder kom­plementäre Formen des Gewahrseins: Im "kartesianischen Modus" wird die Wirk­lich­keit in Form von ge­trennten und eigenständigen Ob­jekten in Raum und Zeit wahrge­nommen. In der "transpersonalen Form" werden die Grenzen der ge­wohnten Wahr­nehmung und des gewohnten Denkens über­schritten. Nicht Objekte, sondern fließende und ver­netzte Energiemuster werden jetzt wahrge­nommen.

Damit bekommt auch "gesund" und "krank" eine ganz neue Bedeutung. Jemand der nur in der ersteren Form des Bewusstseins lebt, kann frei von allen Sym­ptomen und im "kartesianischen" oder schulmedizinischen Sinn gesund sein. Von einem geistigen Stand­punkt aus, der zweiten Modalität des Bewusstseins, kann man diesen Menschen aber nicht als gesund ansehen. Er ist ego­zentrisch, seiner inneren Welt entfremdet und geht in Pro­jektionen nach außen auf.

Umgekehrt haben Symptome von diesem umfassen­deren Standunkt aus eine ganz an­dere Be­deutung. Sie sind nicht Zeichen der Krankheit, sondern Beginn der Gene­sung. Für die Schul­medizin beginnt die Krankheit mit den Symptomen. Grof stellt diese Annahme auf den Kopf: "Wenn ein Mensch anfängt, Symptome zu zeigen, hat der Heilungsprozess begonnen - und den muss man unterstützen."

Das Symptom richtet die Aufmerksamkeit auf die bioenergetisch blockierte Körper­region, sodass hier et­was getan werden kann. Grof arbeitete zum Beispiel mit Men­schen, die an chronischer Bronchitis, chronischer Hals-, Stirnhöhlen- und Blasenent­zündungen litten, mit einer speziellen Atemtechnik. Sie konnten dadurch die ent­sprechende Region als energetisch blockiert fühlen und die Ener­gie wieder in Fluss bringen. Das äußerte sich gewöhnlich in einem Gefühl der Wärme in diesen Körper­partien. Oft war die Folge die­ses Erlebnisses, dass innerhalb von wenigen Tagen die chronischen Infektionen ver­schwun­den waren.

"Es ist denkbar", meint Grof, "dass auf einer ganz tiefen Ebene alle organischen Krankheiten gar keine Krankheiten in dem Sinne sind, wie wir es gewöhnlich anneh­men." Zum Beispiel dass Infektionen nicht durch Bakterien hervorgerufen werden, son­dern da­durch, dass sich der Organis­mus aufgrund einer inneren Störung nicht mehr ge­gen sie wehren kann. "Wenn man also das energetische Ungleichgewicht verhindern kann, kann man auch die Krankheit verhindern. Und wenn man ein energetisches Gleichgewicht wiederherstellen kann, kann man auch die Krankheit heilen. Obwohl man in extremen Fällen die moderne Medizin natürlich nicht ersetzen kann, habe ich dennoch das sehr starke Ge­fühl, dass sie sehr wichtige Dimensionen des Krankheits­ge­schehens vernachlässigt."

 

 

Meditation und Evolution

 

Die Transpersonale Psychologie geht davon aus, dass der Mensch mehr ist als seine Persönlich­keit. Zentrale Bedeutung hat die Bewusstheit, die im alltäglichen Leben eher dem Träumen als dem Wachen gleicht. Normaler­weise schaffen wir es, alle aus dem Unbewussten auf­steigenden Impulse zu verdrängen oder zu projizieren. Deshalb meint Grof, dass man die geistige Gesundheit, wie sie im Westen verstanden wird, als niedrig bezeich­nen kann. Höhere geistige Gesundheit würde dagegen bedeuten, dass wir den Mut hätten, uns mit dem Unbewussten zu konfrontieren, es kennenzulernen, zu verar­beiten und zu in­tegrieren. Die Gesellschaft müsste dem Innenleben Raum geben und das ganze Spektrum menschlicher Erfahrungen akzeptieren lernen.

 

Der Mensch ist nichts Statisches, wie es das mechanistische Weltbild nahelegt, das Entwick­lung nur bis zur Gegenwart akzeptiert, weil nur das kausal erklärt werden kann. Daher ist der Mensch in diesem Weltbild nur ein Ist-Zustand, er ist, was er ist, definiert durch was auch immer, aber er hat keine Zukunft. Entwickeln kann sich die Wissen­schaft, die Wirtschaft, was auch im­mer, - nicht aber der Mensch.

Die Naturwissenschaft ist aber gar nicht kompetent, etwas über den Menschen aus­zu­sagen, was über den physischen "Teil" hinausgeht. Mag sein, dass sich der Körper des Menschen nicht mehr allzu viel weiterentwickelt, die Evolution geht aber im See­lisch-Geistigen und im Bewusstsein weiter. Um das zu sehen, muss man natürlich zuerst akzep­tieren, dass es so etwas wie eine transpersonale und spirituelle Dimension gibt, dann aber ist leicht einzusehen, dass zwischen Mensch und Mensch unter Umständen ein größerer Unterschied besteht als zwischen höheren Tieren und Menschen.

Denn ein Durchschnittsmensch und ein hochentwickelter Mensch, ob man ihn nur einen Heili­gen, Yogi, Erleuchteten oder sonst wie nennt, haben außer der Form, die man als menschliche er­kennen kann, nicht allzu viel gemeinsam. Und doch ist in die­sen Men­schen das Ziel der Mensch­heit erkennbar, sofern man es erkennen kann und will.

Das personale Ego kann, soll und muss sich weiterentwickeln zum tranpersonalen Selbst. Um das zu verwirklichen, ist es notwendig, das Unbewusste zu integrieren. Und dabei ist es notwen­dig, zwei "Richtungen" zu unterscheiden:

1.  das Unterbewusste (das unter dem aktuellen Bewusstsein liegt) und

2.  das Überbewusste ("jenseits" des persönlichen Bewusstseins im transpersonalen Bereich).

 

In den sogenannten Gipfelerlebnissen kann Transpersonales zur bewussten Erfah­rung werden. Dies kann nie durch rationales Denken erreicht werden, sondern nur durch die Verwandlung des Ego. Dies ist auch das Ziel jeder wirklichen Religiosität. Daher sind manche Methoden, Atem­techniken und Visualisationen der neuen Psycho­logie den reli­giösen Übungen verschiedener Traditionen sehr verwandt, oder meist so­gar von dort übernommen.

Die Umwandlung des Ego, die Öffnung für den transpersonalen, spirituellen Be­reich, ist Ziel jeder Meditation, sei sie jetzt christlich, jüdisch, hinduistisch, buddhi­stisch oder moslemisch im Sinne der Sufis. Meditation beginnt mit dem Loslassen ein­gefahrener Standpunkte und Gewohn­heiten, mit der Auflösung von Verdrängungsme­chanismen, der Begegnung mit dem Schatten und seiner Integration, der Klärung des­sen, was unter dem Bewusstsein ist. Erst dadurch wird es mög­lich, sich dem zu öffnen, was über dem sogenannten "normalen" Bewusstsein liegt.

Für den Psychologen Ken Wilber ist Meditation der beharrlich verfolgte Weg der Tranzendie­rung, und Transzendierung nichts anderes als Entwicklung: "Meditation ist Evolution, sie ist Transzendenz - eigentlich also gar nichts Besonderes. Sie erscheint dem Ego nur mysteriös und vertrackt, weil sie Entwicklung über das Ego hinaus ist."

Auch Stanislav Grof anerkennt diese Dimension. Häufig ist das Endergebnis seiner psychothe­rapeutischen Arbeit "ein tiefer mystischer Zustand, der für die betreffende Per­son von dauerhaf­tem Wert und persönlicher Bedeutung sein kann". Grof betont auch ganz deutlich, dass verschie­dene Meditationstechniken und andere Formen spiri­tueller Praktiken keineswegs in Widerspruch zu seinem Ansatz einer transpersonalen Psycholo­gie stehen. "Sobald ein psychotherapeutisches System die perinatale und transpersonale Ebene der Psyche anerkennt, hat es eine Brücke zwi­schen Psychologie und Mystik ge­schlagen und dient zur Ergänzung der spirituellen Praxis."

Außerdem weist Grof darauf hin, dass Ereignisse, die in erster Linie spiritueller und religiöser Natur sind, oft eine ganz gewaltige heilsame Wirkung haben, wodurch auch die Beziehung zur Medizin hergestellt ist. Eine Medizin, die Seelisches und Geistiges in ihre Praxis einbezieht, ist ebenfalls eine Brücke zu Religiosität, Spiritualität und Mystik. Um­gekehrt ist eine wirkliche Heilung (= Ganzwerdung) des Menschen unter Ausklam­merung der spirituellen Ebene gar nicht möglich.

 

 

Nachhaltigkeit und Bewusstsein

 

"Ich habe keinerlei Zweifel daran, dass die meisten Menschen in körperlicher, intellek­tueller oder moralischer Hinsicht nur einen sehr beschränkten Bereich ihres potentiel­len Seins tatsächlich ausfüllen. Sie nutzen nur einen verschwindend kleinen Teil ihres mögli­chen Bewusstseins - etwa wie ein Mensch, der sich angewöhnt, von seinem gesam­ten kör­perlichen Organismus nur den kleinen Finger zu benutzen. Wir alle ver­fügen jedoch über Reservoirs des Lebens, von denen wir nicht einmal träumen." (William James)

 

Natürlich weiß der kleine Finger nichts von der anderen Hand, dem Nabel, der Nase oder dem Gehirn, geschweige denn von der Ganzheit des Menschen. Aber genauso weiß auch des Alltags­bewusstsein gewöhnlich nichts von tieferen oder höheren Bewusstseinszuständen, wenngleich, wie Abraham Maslow festgestellt hat, jeder in seinen Gipfelerlebnissen Ahnung und Erfahrung davon hat.

Es geht also nur darum, das nicht zu verleugnen und zu verdrängen, obwohl das so üb­lich ge­worden ist. Es gibt - und das sagen nicht nur östliche Weise und Mystiker - ein ganzes Spektrum des Bewusstseins, und daher kann dessen Verleugnung nicht gesund sein. Seit den siebziger Jahren haben auch Psychologen zunehmend Interesse an der Unter­suchung von Bewusstseinszuständen und Erfahrungen, die über das Alltägliche hin­aus­gehen.

Wir können es uns nicht länger leisten, die Notwendigkeit zu ignorieren, an uns selbst, an unse­rer innerpsychischen Entwicklung zu arbeiten, ebenso wie wir unsere Umwelt pflegen und schüt­zen müssen.

Die Entwicklung geht immer über die engen Begrenzungen des Ich hinaus. Men­schen, die sich selbst verwirklichen, sind immer in etwas involviert, das über sie als Person hin­ausgeht. Und die entscheidenden Erfah­rungen sind immer solche, die ganze Persön­lichkeit verwandeln, transformie­ren. Die trans­zendente oder Gipfel-Erfahrung ist so tief und erschütternd, schreibt Maslow, dass sie den Charakter der Person für immer ver­ändern kann. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf das, was wir geistige Gesundheit nennen. Von einem höheren Standpunkt aus ist der "Normalzustand" unseres Bewusstseins alles andere als "gesund".

 

Nicht-Nachhaltigkeit ist eng mit dem alten, linearen, mechanistischen Weltbild ver­bunden. Die­ses Denken zersplittert alles in seine Einzelteile und glaubt, man könne ein­zelne Teile wegnehmen, hinzufügen, weglassen, vermehren oder umwandeln, ohne ir­gendwelche Auswirkungen auf andere Systeme und das Gesamtsystem, das gar nicht ins Blickfeld kommt.

Nachhaltigkeit ist ebenso innig mit dem ganzheitlichen Weltbild verbunden, das lang­sam her­aufdämmert, obwohl noch gar nicht abzusehen ist, wohin dieser Weg führt. Nachhaltiges Denken muss bei jeder kleinsten Handlung, aber auch bei jedem Gedanken überlegen, inwieweit schon der kleinste Impuls andere Teilsysteme und die Gesamtheit beeinflusst - jetzt und bis in ferne Zukunft.

Die Konzentration auf beschränkte Teilsysteme birgt ungeheure Gefahren, weil nie gesehen wird, wie sich etwas in anderen Systemen oder auf lange Sicht auswirkt oder summiert.

Die Konzentration auf den Menschen als Ganzheit birgt dagegen enorme positive Res­sourcen. Denn die bewusste Arbeit an sich selbst legt Kräfte frei, die vorher nicht real, weil nicht im Bewusstsein, waren. Welche Bedeutung eine derartige, nachhaltige Einstel­lung hat, sehen wir bereits in der Einbeziehung von Visualisationstechniken z.B. in der Psycho-Onkologie, wo das Einwirken des Geistigen auf die Materie bereits erfolgreich demonstriert wird.

Nachdem die Welt immer so ist, wie wir sie sehen, kann nur die Einbeziehung der tieferen und höheren Ebenen des Bewusstseins die Welt nachhaltig verändern.

 

 

Literatur

 

Bach, Edward: "Die heilende Natur - Die Gedanken des Begründers der `Bach-Blüten-Therapie´ zum Wesen von Krankheit und Gesundheit", 3.Aufl. 1990, Heyne

Capra, Fritjof: "Das neue Denken - Die Entstehung eines ganzheitlichen Weltbildes im Spannungsfeld zwischen Naturwissenschaft und Mystik", 1987, Scherz

Dahlke, Rüdiger: "Krankheit als Sprache der Seele - Bei-Deutung und Chance der Krankheitsbilder", 1992, Bertelsmann

Grof, Stanislav: "Die Chance der Menschheit. Bewusstseinsentwicklung - der Ausweg aus der globalen Krise", 1988, Kösel-Verlag

Grof, Stanislav: "Auf der Schwelle zum Leben. Die Geburt: Tor zur Transpersonalität und Spiritualität", 1989, Heyne Verlag

Harsieber, Robert: "Das neue Weltbild - Das Entstehen eines neuen Denkens", 1989, hpt

Harsieber, Robert: "Jenseits der Schulmedizin - Der Mensch als vernetztes System", 1993, Edition Va Bene

Milz, Helmut: "Ganzheitliche Medizin - Neue Wege zur Gesundheit", 1985, Heyne

Simonton, Stephanie und Carl: "Wieder gesund werden", 1982, Rowohlt

Simonton, O. Carl: "Prinzip Mut - Die Aktivierung der Selbstheilungskräfte bei Krebs", hrsg. v. Anita Bachmann, 1989, Heyne

Walsh, Roger N./Vaughan, Frances (Hrsg.): "Psychologie in der Wende. Grundlagen, Methoden und Ziele der Transpersonalen Psychologie", 1985, Scherz

Wilber, Ken: "Das Spektrum des Bewusstseins", 1987, Scherz

Wilber, Ken (Hrsg.): "Das holographische Weltbild - Wissenschaft und Forschung auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Weltverständnis", 1988, O.W. Barth Verlag

Robert Harsieber

 

Philosoph - Journalist - Verleger

 

„Die Art,

wie wir die Welt sehen,

erleben und in ihr agieren,

hängt ab von einem ‚Denkrahmen‘.

Er zeigt den für uns wichtig gewordenen, gewohnten Ausschnitt der Wirklichkeit.

Er schließt ein

und er grenzt aus.

In diesen Denkrahmen

sind wir hineingewachsen.

Wir können aber auch

über ihn hinauswachsen.“