„Wer nur vernünftig ist, funktioniert wie eine Maschine“

Was das Leben wirklich schön macht, ist nicht vernünftig.

 

Ludwig Wittgenstein schreibt in seiner Logisch-Philosophischen Abhandlung (Tractatus logico-philosophicus, erschienen 1921): „Wir fühlen, dass selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ Die Welt, oder besser der Mensch, ist zwiespältig. Da wäre einerseits die „objektive“ Welt, die der Naturwissenschaft zugänglich ist, andererseits die Welt, die uns als Menschen nahe geht. Man könnte auch sagen: gegenständliche Welt einerseits und Leben andererseits, und letztlich sind beide inkompatibel oder haben wenig gemeinsam.

Daran sollte sich erinnern, wer heute der Naturwissenschaftsgläubigkeit auf den Leim geht. Nicht dass Naturwissenschaft schlechte wäre, ganz im Gegenteil. Aber Naturwissenschaft kann nur Fragen stellen, die zwar das (sich ständig ändernde) Wissen vermehren, aber menschlich nicht wirklich relevant sind. Mit dem Leben hat das wenig zu tun. Die Fragen, was wir tun oder lassen sollen, was ethisch richtig oder falsch ist, wie Leben geht und gelingen kann, wozu das ganze tut ist und wohin es führt oder führen soll – all das sind keine naturwissenschaftlichen, sondern philosophische und theologische Fragen.

Und wenn jetzt jemand fragt, was ist mit der Medizin, die hat doch mit dem Menschen zu tun? Darauf gibt es eine klare Antwort: Medizin ist nur zu einem relativ kleinen Teil Naturwissenschaft, der größere Rest sollte sich mit dem Menschen beschäftigen. Und das ist genau das Problem der Medizin, sie steht immer in der Versuchung, im Namen der Wissenschaft den Menschen zu unterschlagen.

Das Ergebnis einer missverstandenen Aufklärung, dass unser Leben nur mehr rational verlaufen soll, ist eine schlichte Verwechslung dieser zwei Bereiche. Leben ist nicht irrational, aber a-rational. Wer versucht, nur rational zu leben, der versucht, einem Roboter ähnlich zu werden. Nur Maschinen sind rational durchschaubar.

„Wer nur vernünftig ist, funktioniert wie eine Maschine“, sagt der Philosoph Robert Pfaller. Nur vernünftig zu sein, funktioniert aber auch gar nicht, denn nur vernünftig sein zu wollen, ist ziemlich unvernünftig. Der Mensch ist mehr, und alles andere auszugrenzen, wäre tatsächlich unvernünftig. Selbst der Physiker Hans-Peter Dürr betont, dass der Mensch gar nicht durchgängig rational sein kann. Wäre da nicht im Hintergrund etwas, das ohne unser rationales Zutun funktioniert, wären wir nicht lebensfähig. Überdies hat die Physik mit der Quantentheorie das Feld des rein Rationalen auch schon längst verlassen. Heute muss man sagen, dass zwar die Mathematik dahinter rational ist, jeder Erklärungsversuch jedoch darüber hinausgeht. Es ist heute längst so, dass auch die Naturwissenschaft nur in Gleichnissen reden kann[1], der allgemeine Hausverstand aber noch immer meint, die Welt und sich selbst rational erklären zu können. Unser Welt- und Menschenbild hinkt 100 Jahre hinten nach, ein zeitgemäßes Weltbild gibt es noch nicht.

Robert Pfaller meint, dass uns heute die sozialen Ideale abhandengekommen sind, wir lassen uns nicht mehr von außen bestimmen. Dafür „beherrscht uns heute das viel perfidere, im ‚Ich‘ verankerte Ideal der Vernunft. Wir erleben nicht mehr den äußeren Druck, uns auf irgendeine Weise akzeptabel zu verhalten, sondern den inneren Druck, immer vernünftig zu sein. Das heißt: möglichst effizient zu handeln, uns permanent selbst zu optimieren und alles zu vermeiden, was zwar lustvoll, aber scheinbar schlecht für uns ist. Deshalb trinken wir Bier ohne Alkohol, essen Margarine ohne Fett und haben im Internet Sex ohne Körperkontakt.“

Wirklich vernünftig wäre es, uns nicht länger freiwillig in einen rationalen Käfig einzusperren und diese zwiespältige Welt, die Ding-Welt und die Lebenswelt, die rational zugängliche und die a-rational bleibende, wieder zusammenzubringen. Die Welt würde dadurch nicht unvernünftig, sondern schöner – und lebenswert. Ein Leben, für das es sich zu leben lohnt. Denn rational können wir nicht genießen, uns nicht freuen, nicht loslassen und nicht lieben.

Zum Abschluss noch ein kurzer Ausflug in die Psychologie: Ein bloß rationales Leben ist ein reduziertes, verengtes Leben. Und diese Enge führt zur Angst. Angst kommt von Enge. Daher darf es nicht verwundern, dass Rationalität mit Angst verknüpft ist. Mit der Angst loszulassen, der Angst sich fallen zu lassen, der Angst Grenzen zu überschreiten und der damit verbundenen Unsicherheit. Kein Wunder, dass Liebe ziemlich unmodern geworden ist, bedeutet sie doch immer, über sich selbst hinauszugehen, sich loszulassen, über Grenzen zu schreiten, zu einem größeren Ganzen zu finden. Sich auf ein Abenteuer (im positiven Sinne) einzulassen, jeglichen Horizont zu überschreiten und sich auf Ungewissheiten einzulassen. Alles ziemlich unvernünftig. Ein rationaler Mensch ist zu all dem nicht fähig. Aber wer ist schon nur rational?

Haben wir da an der Aufklärung etwas missverstanden?

 

[1] Hans-Peter Dürr: Auch die Wissenschaft spricht nur in Gleichnissen, Herder spektrum 2004

Hans-Peter Dürr: Wir erleben mehr als wir begreifen. Quantenphysik und Lebensfragen. Herder spektrum, 5. Aufl.  2004

Robert Pfaller "Genuss ist politisch", Zeit online

 

Bildnachweis: Urs Flükiger  / pixelio.de

 

Published on Newsgrape on 2012-11-22 08:54:41.200888

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Robert Harsieber

 

Philosoph - Journalist - Verleger

 

„Die Art,

wie wir die Welt sehen,

erleben und in ihr agieren,

hängt ab von einem ‚Denkrahmen‘.

Er zeigt den für uns wichtig gewordenen, gewohnten Ausschnitt der Wirklichkeit.

Er schließt ein

und er grenzt aus.

In diesen Denkrahmen

sind wir hineingewachsen.

Wir können aber auch

über ihn hinauswachsen.“