Das Phänomen Leben – naturwissenschaftlich nicht fassbar

Wenn wir unter exakter Naturwissenschaft die Methode von Physik und Chemie verstehen, dann ist Leben so nicht erklärbar, und der Mensch ist mehr als Naturwissenschaft erfassen kann.

Wer sich dagegen wehrt, der möge bei Ernst Mayr nachschlagen, einem Evolutionsbiologen, den man den Darwin des 20. Jahrhunderts genannt hat. Für ihn ist die Biologie eine Naturwissenschaft wie Physik und Chemie, aber doch in vieler Hinsicht anders. Denn einige der grundlegenden Prinzipien der exakten Naturwissenschaft sind auf die Biologie nicht übertragbar. Umgekehrt sind Grundprinzipien der Biologie auf die unbelebte Materie nicht anwendbar.

Reduktion und Komplexität

Der strikte Reduktionismus ist sogar in der Physik nicht mehr universell gültig, viele verwechseln auch Reduktion und Analyse. Es ist hilfreich, ein System in Teile zu zerlegen, es darauf zu reduzieren, ist etwas ganz anderes und wissenschaftlich ohnehin unzulässig. In der Biologie genügt es erst recht nicht, die Teilkomponenten zu kennen, aus denen ein Organismus „zusammengesetzt“ ist.

Kein komplexes System kann ohne sorgfältige Analyse verstanden werden. Doch die Wechselwirkungen zwischen den Bestandteilen müssen ebenso untersucht werden wie die Eigenschaften der einzelnen Komponenten. In einem biologischen System treten so viele Wechselwirkungen zwischen den Bestandteilen auf, dass selbst ein vollständiges Wissen über die Eigenschaften der kleinsten Bestandteile notgedrungen nur eine Teilerklärung bieten kann.

Einmaligkeit, Vielfalt, Vernetzung, Zielgerichtetheit

Wenn die Physik Allgemeingültigkeit und Reproduzierbarkeit fordert, geht damit die Einmaligkeit verloren – auf die es in der Biologie ankommt. Jeder Organismus, jede Zelle, jeder entwicklungsbiologische Prozess ist einmalig und damit nicht reproduzierbar. Die in der Physik geforderte Methode der Analyse schließt Synthese und Vernetzung aus – genau darum geht es aber in der Biologie. Die in der Physik geforderte Eindeutigkeit schließt die Vielfalt aus, mit der es die Biologen zu tun haben. Die Beschränkung auf die nach rückwärts gerichtete Kausalität in der Physik macht die Finalität bedeutungslos. Zweckmäßigkeit, Zielgerichtetheit ist aber charakteristisch für die Welt des Lebendigen und muss hier die Kausalität ergänzen.

Die belebte Welt ist nach Mayr einer dualen Kausalität unterworfen, einerseits Naturgesetzen, andererseits einem genetischen Programm. Die Abwesenheit oder das Vorhandensein eines genetischen Programms markiert die Grenze zwischen der unbelebten und der belebten Welt. Und in der Biologie spielt auch die Zeit (Evolution) eine hervorragende Rolle, im Gegensatz zur Physik, die alles in der Gegenwart untersuchen kann.

Die Wissenschaftstheorie war lange Zeit von der Physik bestimmt, auch Karl Popper ist da keine Ausnahme. Ernst Mayr geht in gewissem Sinne wieder auf Aristoteles zurück, der schon feststellte, dass mehr als die Gesetze der Physik notwendig sind, damit aus einem Froschei ein Frosch wird. Die neuere Evolutionsbiologie geht davon aus, dass die äußere Selektion nicht der einzige Faktor der Evolution ist, und dass Evolution auch mehr ist als die Realisierung eines genetischen Programms.

Leben und Ganzheit

Der Forschungsgegenstand der Biologie sind lebende Organismen, die sich in vielfacher Hinsicht fundamental von den unbelebten Objekten der Physik unterscheiden. Der Mensch ist ein lebendiger Organismus, der nur zum Teil physikalisch-chemisch untersucht, aber nicht auf physikalisch-chemische Gesetze reduziert werden kann, wie das heute nur zu oft passiert. Gleichzeitig ist der Mensch für den Biologen Ernst Mayr ein so einzigartiger Organismus, dass auch eine Philosophie, die sich auf seine rein biologischen Merkmale beschränkt, äußerst unzureichend wäre.

Damit wird  endgültig klar, dass die Medizin, die sich mit dem ganzen Menschen beschäftigt, auch auf das gesamte Spektrum der Wissenschaften, von Physik und Chemie über Biologie und darüber hinaus – Psychologie, Soziologie bis Philosophie und Theologie zurückgreifen muss. Naturwissenschaft allein im Sinne der Physik ist jedenfalls bei weitem zu wenig.

 

Bildquelle: © Albert Harsieber

Published on Newsgrape on 2011-02-24 11:01:07

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Robert Harsieber

 

Philosoph - Journalist - Verleger

 

„Die Art,

wie wir die Welt sehen,

erleben und in ihr agieren,

hängt ab von einem ‚Denkrahmen‘.

Er zeigt den für uns wichtig gewordenen, gewohnten Ausschnitt der Wirklichkeit.

Er schließt ein

und er grenzt aus.

In diesen Denkrahmen

sind wir hineingewachsen.

Wir können aber auch

über ihn hinauswachsen.“