Naturwissenschaft und Philosophie

Im Userkommentar auf derstandard.at von Thall Kausenmut „Die Philosophie ist in eine Krise geraten“ sind wohl einige Begriffe durcheinandergeraten, vor allen ist der zugrunde gelegte Wissenschaftsbegriff längst nicht mehr zeitgemäß.


Die Philosophie war ursprünglich die Wissenschaft schlechthin. Dass sie zur Religion geworden wäre, ist eine gewagte Behauptung. Theologie war und ist etwas anderes als Religion.


„Die Philosophie steckt wahrlich in einer Krise.“


Ja, sie steckt in einer Krise, aber nicht weil ihr die Naturwissenschaften die Welterklärung aus der Hand genommen hätten, sondern weil sich Philosophen zu wenig mit Physik beschäftigen. Naturwissenschaft entstand im 17. Jahrhundert durch die bewusste methodische Einschränkung der Wirklichkeit auf Materie in Raum und Zeit. Dass es außer dieser nichts gibt, hätten die Begründer (Descartes, Galilei, Newton) niemals so stehen gelassen. Wer das behauptet, lässt Naturwissenschaft zur Ideologie verkommen. Es bleibt da noch sehr vieles, das nicht in den Bereich der Naturwissenschaft fällt. Ludwig Wittgenstein nannte das Kind beim Namen: „Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ (Tractatus, 6.52)


Naturwissenschaft wird nie die Welt erklären können, „weil zur Welt doch so viel mehr gehört als bloß Teilchen in Raum und Zeit“ (Erwin Schrödinger). Dazu braucht es nicht eine beleidigte Philosophie, sondern das sagt ein Physiker. Seit der Quantentheorie ist auch endgültig klar, dass es in der Physik nicht um die Erklärung der Natur oder der Welt geht, sondern um das menschliche Erkennen der Welt. Seit Heisenbergs Unschärferelation wissen wir außerdem, dass eine vollständige Beschreibung prinzipiell nie möglich sein wird.


Auch die Naturwissenschaft besteht nicht nur aus Experimenten, sondern auch aus Hypothesen, die aus der Beobachtung und nach Einstein auch aus der Intuition hervorgehen. Einstein hat nie experimentiert, sein „Labor“ waren sozusagen Zettel und Bleistift. Seine Experimente waren Gedankenexperimente, die erst viel später in Experimenten belegt wurden.


„Nur eine Theorie, die in mehreren Anläufen verifiziert wurde, kann als glaubwürdige Theorie weiter Bestand haben.“

Eine Theorie kann gar nicht verifiziert werden, sie hat Bestand, solange sie nicht widerlegt werden kann. Nach Herbert Pietschmann kann man nicht einmal die Naturgesetze beweisen. Sie sind verlässlich, aber nicht beweisbar.


Philosophie ist zu einer Wissenschaft geworden, die sich mit den Resten anderer Wissenschaften beschäftigt“, durch einen intensiven Nachdenkprozess, der sei „aber eben nur ein Produkt des subjektiven Geistes und birgt keineswegs Objektivität in sich“.

Da stecken einige Ungereimtheiten in einem einzigen Satz: Zu diesen „Resten“ gehören auch die Oberbegriffe der Naturwissenschaften, denn die Physik kann nicht erklären, was Materie ist, die Biologie nicht, was Leben ist. Das sind philosophische Fragen, die die Naturwissenschaften nicht einmal stellen, geschweige denn beantworten können. Weiters ist in der modernen Physik der Dualismus von Subjekt und Objekt und damit die Objektivität selbst fraglich geworden. Die Naturwissenschaft ist entstanden, indem man das Subjekt aus der Forschung eliminiert hat. In der Quantentheorie ist das nicht mehr möglich, da ist das Subjekt quasi wieder zurückgekehrt. Der Messvorgang (und auch Hinschauen ist Messen) selbst bestimmt das Ergebnis. Das Ergebnis bedarf der Interpretation, und über diese herrscht keine (objektive) Einigkeit mehr.


Psychologie, Soziologie und Biologie als Naturwissenschaft zu bezeichnen, ist ebenfalls gewagt, geht es doch darin nicht um bloß Materielles. Nach Ernst Mayr verläuft die Grenze zwischen Natur- und Geisteswissenschaften mitten durch die Biologie, die eben zum Teil eine historische Wissenschaft ist. An der Medizin, die Kausenmut auch unter die Naturwissenschaften einreiht, lässt sich das gut erläutern. Die Medizin hat es mit dem Menschen zu tun, und der ist nur zum Teil naturwissenschaftlich zu erfassen. Selbst die sogenannte Evidence based Medicine (EBM) hat mit dem Problem zu kämpfen, dass sie einen statistischen Durchschnittsmenschen zugrunde legt, der in der Realität so nicht vorkommt. Kein Arzt kann ausschließlich evidence based vorgehen, wenn er einen konkreten Menschen vor sich hat.


Was zum nächsten Missverständnis führt: Die „großen Fragen, die immerzu komplex gewesen sind, wurden von etlichen anderen Disziplinen aufgegriffen“.

Sozusagen der Philosophie aus der Hand genommen. Tatsache ist, dass Naturwissenschaft auf Experimente angewiesen ist, das sind extrem vereinfachte Situationen, die so isoliert in der Natur gar nicht vorkommen. Naturwissenschaft ist, auf Analyse angewiesen, geradezu die Wissenschaft einfachster Systeme. Die erste Disziplin, die sich mit komplexen Systemen beschäftigt, ist die Chaostheorie.

„Die Physik will die Natur sowie deren unbeeinflussbare Vorgänge mittels Theorien und Experimenten auf physikalische Art und Weise erklären.“


Mit dem Wissenschaftsbegriff des 19. Jahrhunderts werden wir da nicht mehr weit kommen. Physik kann nicht die Natur, sondern nur unsere Wahrnehmung der Natur erforschen, und Quantenvorgänge sind gar nicht zu erfassen, ohne sie zu beeinflussen.

Weite Teile der Urknalltheorie, der Inflationstheorie oder der Quantenfeldtheorie sind möglicherweise weder verifizierbar noch falsifizierbar, und trotzdem wird selbstverständlich weiter geforscht und gedacht. Über die Interpretation der Quantentheorie herrscht bis heute keine Einigkeit. Die Quantentheorie geht außerdem über die europäische, im Wesentlichen Aristotelische Logik hinaus. Materie, Raum, Zeit, Kausalität, Identität haben ihre klassische Bedeutung verloren, die Physiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mussten schon feststellen, dass die Natur tatsächlich so absurd ist, dass sie mit dem „normalen“ rationalen Verstand nicht zu erfassen ist. Diese Physiker, Einstein, Heisenberg, Bohr, Schrödinger, Pauli und viele andere sind dadurch (auch) zu Philosophen geworden. Und die Philosophen täten heute gut daran, sich mit den Konsequenzen der modernen Physik und einer zeitgemäßen Logik und Weltanschauung zu beschäftigen.

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Robert Harsieber

 

Philosoph - Journalist - Verleger

 

„Die Art,

wie wir die Welt sehen,

erleben und in ihr agieren,

hängt ab von einem ‚Denkrahmen‘.

Er zeigt den für uns wichtig gewordenen, gewohnten Ausschnitt der Wirklichkeit.

Er schließt ein

und er grenzt aus.

In diesen Denkrahmen

sind wir hineingewachsen.

Wir können aber auch

über ihn hinauswachsen.“