Zwischen Quanten und Mystik

In den 1960er Jahren tauchte erstmals eine Analogie zwischen Quantenphysik und (östlicher) Mystik auf[1]. In der Folge verflachte diese Idee jedoch in billige esoterische Gleichsetzung, womit das wesentlich Neue wieder verschleiert wurde.

 

Ein fundamentaler Begriff der Quantenmechanik ist die Komplementarität, den Niels Bohr aus dem Daoismus entlehnte, der das aristotelische Entweder-Oder nicht kennt. Es ging ursprünglich darum, dass selbst extreme Gegensätze einander nicht ausschließen müssen, sondern beide – wie Teilchen und Welle – zur Beschreibung der Wirklichkeit notwendig sind. Damit wurde die Einseitigkeit des westlichen Denkens bloßgelegt, das – in östlicher Terminologie – das Yang überbetont und das Yin verdrängt. In westlicher Terminologie ist es die Überbetonung des männlichen, patriarchalen Begriffs-Denkens und die Verdrängung des weiblichen Beziehungs-Denkens. Wobei ersteres auch ein fragmentierendes und letzteres ein ganzheitliches Denken ist.

 

Allerdings stürzte sich eine seichte Esoterik auf diese Ideen, und es wurden in verkürzter Form Quanten und Bewusstsein gleichgesetzt. Das basiert auf einem Missverständnis des Doppelspalt-Experiments, in dem unterschoben wird, dass das Bewusstsein den Kollaps der Wellenfunktion oder die Dekohärenz auslöst. Dabei wird schlicht Bewusstsein und Messung verwechselt. Messung ist nichts anderes als physikalische Wechselwirkung (zwischen Quanten und Messapparat), und dafür ist kein Bewusstsein notwendig. Selbst wenn niemand im Raum ist und niemand beobachtet, läuft alles ganz gleich ab.

 

Dieser mentale Kurzschluss führt aber dazu, die „Welt“ der Quanten mit der „Welt“ des Bewusstseins gleichzusetzen, dem Bewusstsein Quantenphänomene zugrunde zu legen oder sogar Physik und Mystik gleichzusetzen. Damit geht aber die Welt „dazwischen“ – und das ist unsere Welt – verloren. Alles ist dann „hier und jetzt“, „es gibt keine Zeit“, der Mensch „ist göttlich“ und braucht nichts weiter zu tun. Dass sich durch solche Plattitüden nichts im Leben ändert, fällt diesen „Aufgewachten“ und „Erleuchteten“ gar nicht auf.

 

Lebenswelt zwischen Quanten und Geist

Bleiben wir seriös, dann können wir sagen, dass die Quantenphysik ein völlig neues Denken erfordert, das dem östlichen Denken näher ist als der aristotelischen Logik, dass aber Physik und östliche Mystik immer noch zwei völlig verschiedene Bereiche sind – genauso wie Physik und Philosophie, auch wenn vieles ähnlich oder analog klingt. Es geht nicht darum, Verschiedenes ident zu setzen, sondern dem fragmentierenden Denken ein ganzheitliches entgegenzusetzen – als Gegensätze, die Gegensätze bleiben, aber nur beide zusammen ein Ganzes ergeben: Komplementarität statt Entweder-Oder. Konkret heißt das: Physik und Philosophie oder Mystik sind verschiedene Bereiche der Wirklichkeit, von denen man nicht einen Bereich eliminieren, die man aber auch nicht gleichsetzen kann. Sie schließen einander nicht aus, sondern gehören als gegensätzlich oder verschiedene Perspektiven komplementär zusammen.

 

Wobei eine große Gefahr zu vermeiden ist: Es geht NICHT darum, jetzt ins östliche Denken überzuwechseln. Damit würden wir nur unsere traditionelle Einseitigkeit gegen eine andere austauschen. Das wäre zwar möglicherwiese besser, aber immer noch einseitig! Am Beginn der westlichen Philosophie machte schon Heraklit auf diese Falle aufmerksam: Sein Begriff der Enantiodromie bedeutet, dass jedes Extrem irgendwann in sein Gegenteil übergeht. Die Welt ist nicht feststehendes Sein, sondern reine Dynamik – und die lebt von den Gegensätzen.

 

Die Atomisten (Demokrit) sahen das Universum als aus kleinsten Teilchen, den Atomen (griechisch átomos, das Unteilbare), zusammengesetzt. Nicht mehr teilbar heißt aber, nicht mehr „materiell“, denn Materie (Ausgedehntes) ist unendlich teilbar. Dieser Widerspruch ist nicht eliminierbar, und genau der taucht in der Quantenmechanik als Teilchen-Welle-Dualismus wieder auf. Quantenphänomene sind weder Teilchen, noch Welle, sondern etwas anderes, das nicht mehr der bisherigen Vorstellung von Materie entspricht.

 

Daher kann man plakativ sagen, dass Materie nicht materiell ist (Hans-Peter Dürr), womit gemeint ist, dass Materie nicht das ist, was man sich bis dahin als materiell vorgestellt hat. Oder anders gesagt: Die Entweder-Oder-Logik versagt, das fragmentierende Objektdenken versagt, fundamental sind nicht Teilchen, sondern Beziehung, die Welt ist im Grunde ein Beziehungsmuster. Damit löst sich der Dualismus (Leib-Seele, Materie-Geist) auf, die Gegensätze sind notwendige Vorstellung, aber nicht „Realität“. Wir brauchen sie für die Kommunikation, aber die Natur kennt keine Grenzen.

 

Der Dualismus ist Teil einer abstrakten Gedankenwelt – eine künstliche Trennung, aus der es kein Entkommen gibt. Realistischer ist ein trinitarisches Denken: Körper – Seele – Geist. Wir sind Seele (das Psychische ist das einzige, das uns unmittelbar zugänglich ist – C.G. Jung) zwischen Materie und Geist – beides jenseits des unmittelbaren Erlebens. Damit wird uns eine Trennung zwischen materieller und geistiger Welt vorgegaukelt. In „Wirklichkeit“ gibt es nur eine Welt, und die nicht als Objekt für ein Subjekt, sondern als Wahrnehmungsfeld, das beides umfasst.

 

Der mentale Kurzschluss der Esoteriker ist, Gegensätze anzunehmen und diese gleichzusetzen. Quanten und Bewusstsein sind dasselbe, damit können wir mit Quanten heilen, meditieren und was auch immer. Dahinter steht – den Betreffenden völlig unbewusst – das alte Objektdenken. Quanten und Bewusstsein sind Entitäten, die „in Wirklichkeit“ eins sind. Das ist immer noch das alte fragmentierende Denken, das zwei „Dinge“ gleichsetzt. Das ist ungefähr dasselbe wie wenn ein Kind die Augen schließt und glaubt, dass es so nicht gesehen werden kann. „Alles ist eins im hier und jetzt“ – als gäbe es die Welt, in der wir leben, damit nicht.

 

Worum es wirklich geht

Realistisch betrachtet ist es umgekehrt: „Real“ ist die Welt, in der wir leben. Die kann kein „hier und jetzt“ und kein „es gibt keine Zeit“ eliminieren. Für die östlichen Kulturen, die sich nicht auf die äußere, sondern auf die inneren Welten konzentriert haben, ist das „hier und jetzt“ real, nicht als Welt, sondern als Erfahrung – und das ist etwas völlig anderes. Denn dann ist das „hier und jetzt“ nicht abgelöst von der Vergangenheit, sondern die Vergangenheit ist in der Gegenwart anwesend. Alles, was ich bin, bin ich durch meine Biografie. 

 

Wir müssen ausgehen von der Welt, in der wir leben. Die ist keine „objektive“ Welt, sondern unsere Erfahrung. Und nur diese Erfahrung ist das, womit wir arbeiten können. Es geht nicht um eine abstrakte Welt, sondern um das Sehen der Welt. Genauso wie die Naturwissenschaft nicht die Beschreibung der Natur ist, sondern unseres Sehens der Natur (Heisenberg). Oder wie es philosophisch nicht um eine abstrakte Wahrheit geht, sondern um das, was wir wissen können (Kant).

 

Das heißt, es gibt kein Objekt ohne Subjekt. Beides sind Abstraktionen, die wir brauchen, um uns zu verständigen. Kommunikation ist aber das Transportieren dieser Einheit von Subjekt und Objekt in der Wahrnehmung. Ich verständige mich durch Begriffe, die auf Wahrnehmung zielen. Das was kommuniziert, ist unsere Psyche. Und zwar über ein Außen (Welt), das dem Innen entspricht.

 

Interessant ist nun, dass die Physik (die Untersuchung der materiellen Welt) und die Psychologie (C.G. Jungs) zu einem analogen Ergebnis kommen, wenn ihr Hintergrund untersucht wird.

Der materialen Welt zugrunde liegt eine „Welt“, in der die angenommenen „Teilchen“ an allen möglichen Orten gleichzeitig, anders gesagt überall und nirgends sind (das heißt, sie sind weder „materiell“, noch lokal) – in der Nicht-Lokalität. Durch Dekohärenz manifestieren sie sich erst als Teilchen.

 

Auf der „anderen Seite“ liegen der Psyche Muster zugrunde (Archetypen), die nicht psychisch, sondern psychoid sind. Diese Archetypen sind unbewusst, das heißt unanschaulich, und manifestieren sich in Träumen, Fantasien, Imaginationen in archetypischen Vorstellungen und Bildern, die wir wahrnehmen.

Das heißt, sowohl der materiellen als auch der psychischen Welt liegt eine unanschauliche „Welt“ zugrunde, die nicht einmal Welt ist, sondern Nicht-Lokalität auf der einen und Unbewusstes auf der anderen Seite. Dem Raum liegt Raumloses, der Zeit Zeitloses (das ist ja mit dem „Hier und Jetzt“ eigentlich gemeint), dem Bewusstsein Unbewusstes zugrunde. Will man dem inflationären Begriff des „Aufwachens“ eine Bedeutung beilegen, dann den dieses raum- und zeitlosen, nicht-lokalen Unbewussten.

 

Damit ergeben sich zwei Fragen:

1.     Sind Nicht-Lokalität und Unbewusstes dasselbe, sozusagen nur von zwei verschiedenen Seiten angesteuert? Für Jung geht die Psyche nach „unten“ in das Materielle (Unbewusste), und nach „oben“ in Geistiges (Überbewusstes) über. Letzteres erinnert an Aurobindos „supermind“. Mit einer kurzschlüssigen Gleichsetzung sollte man also vorsichtig sein! Es ist Gegensätzliches, das zusammengehört – also Komplementarität. Es ist wie Außen- und Innenseite derselben Wirklichkeit, es ist eins ohne das andere nicht denkbar.

 

2.     Sind Bewusstsein und „erwachtes“ Bewusstsein dasselbe, nur eine größere Klarheit? Wohl auch nicht. Bewusstsein braucht immer ein Gegenüber, manifestiert sich in der Subjekt-Objekt-Spaltung. ICH bin mir ETWAS bewusst. Beim Samadhi, Satori usw. geht es um einen veränderten, einen sich verändernden Bewusstseinszustand. Ich versuche das mit dem Begriff Bewusstheit (statt Bewusstsein) auszudrücken, weil es nicht um ein Etwas, ein Wahrgenommenes geht, sondern um eine Intensität des Wahrnehmens geht, die durch das Zusammenfallen oder besser, das Wegfallen der Grenzen von Subjekt und Objekt entsteht. (Man kann das nur sehr holprig ausdrücken). Es beginnt damit, dass das Außen zwar außen, aber doch innen wahrgenommen wird – als würde das Innen sich wie ein Feld nach außen ausdehnen und alles mitumfassen oder einbeziehen...

 

Zusammenfassend: Wir brauchen keine Quanten, um das Bewusstsein oder veränderte Bewusstseinszustände zu erklären. Meditation gibt es in Asien seit Jahrtausenden, Kontemplation gibt es im Westen zumindest neben dem Mainstream auch immer schon. Aber das gegenwärtige Weltbild, das auf der klassischen Physik beruht, kann die Wirklichkeit nicht erklären. Wären Atome tatsächlich kleine Planetensysteme, wie es das Bohrsche (das letzte klassische) Atommodell nahelegt, würden diese Atome in sich zusammenfallen und es gäbe gar kein Universum. Unser gängiges Weltbild kann nicht einmal die Festigkeit der Materie erklären. Das kann nur die Quantenphysik – und zwar u.a. dadurch, dass es im subatomaren Bereich keine Teilchen, sondern nur mehr Beziehung gibt.

 

Das wiederum heißt, dass die Physik, die uns das materialistische Weltbild eingebrockt hat, dieses längst verlassen hat. Es ist daher naheliegend, das immer noch grassierende alte Weltbild durch die Physik selbst aufzubrechen. Auch wenn wir es genauso gut durch die Analytische Psychologie C.G. Jungs oder die asiatische Philosophie (durch Yoga, Tantra oder Daoismus) tun könnten. Es geht nicht um eine Gleichsetzung von Quanten und Bewusstsein – das wäre bloß ein mentaler Kurzschluss – sondern um ein neues Denken, das nicht Teile und Ganzes gegeneinander ausspielt, sondern beim notwendigen Fragmentieren das grenzenlose Ganze nicht aus den Augen verliert.

 



[1] Fritjof Capra: Das Tao der Physik, O.W. Barth-Verlag, 1977

Robert Harsieber

 

Philosoph - Journalist - Verleger

 

„Die Art,

wie wir die Welt sehen,

erleben und in ihr agieren,

hängt ab von einem ‚Denkrahmen‘.

Er zeigt den für uns wichtig gewordenen, gewohnten Ausschnitt der Wirklichkeit.

Er schließt ein

und er grenzt aus.

In diesen Denkrahmen

sind wir hineingewachsen.

Wir können aber auch

über ihn hinauswachsen.“