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Bauchgefühle – Nutzen und Täuschung

 

Es ist heute modern, auf den Bauch zu hören, sich auf den Bauch zu verlassen – so als hätte der immer Recht. Der Bauch reagiert zwar oft schneller und sensibler als der Verstand, aber es ist nicht immer gut, sich nur darauf zu verlassen.

 

Der Bauch ist zwar essenziell für unser Leben, er ist eine Basis, eine Grundlage. Aber der Mensch ist nicht nur Bauch. Nur Bauch ist der Narzisst, dem es nur um sich selbst geht. Was der Bauch empfindet, ist nicht immer richtig – es fühlt sich aber immer so an. Daher ist es gut zu reflektieren. Denn der Bauch will Lust maximieren und Unlust vermeiden. Es geht ihm darum, was momentan angenehm ist und nicht darum, was langfristig gut ist. „Der Bauch denkt nicht langfristig, er entwirft keine Lebensplanung. Er lebt im Hier und Jetzt“, so der Psychiater und Psychotherapeut Raphael Bonelli in seinem neuen Buch „Bauchgefühle. Wie sie entstehen. Was sie uns sagen. Wie wir sie nützen“.

 

Dabei ist zweierlei zu beachten: 1. Es geht dem Bauch (zwanghaft und unbewusst) einseitig um Lustgewinn und Unlustvermeidung. 2. Das Hier und Jetzt des Bauchgefühls ist nicht das Hier und Jetzt spiritueller Systeme, sondern genau das Gegenteil. Es geht nur darum, was im Moment angenehm ist, am besten viel und immer mehr – ohne Rücksicht darauf, wozu das führen und was daraus werden kann. Daher auch „ohne Rücksicht auf Verluste“, d.h. in einer Partnerschaft ist es dem Bauchmenschen völlig egal, wie der andere empfindet, es geht nur um den eigenen „Bauch“.

 

Der Bauch handelt kurzfristig, spontan, unüberlegt, auf die nächste, schnelle Befriedigung bedacht.“ Spontaneität ist sehr gut, aber reduziert auf den Bauch geht ein Narzisst in der Partnerschaft über Leichen. Und noch schlimmer: Es ist ihm nicht bewusst. Denn „einem Menschen, der ganz Bauch ist, [ist es] unmöglich zu verstehen, was er selbst ist“. Er lebt in seiner reduzierten Welt: „Begierde wird mit Liebe verwechselt, Gier verdrängt und erstickt unsere Werte, Selbstzufriedenheit macht uns blind für andere und Angst bestimmt unseren Alltag.“

 

Das Plädoyer Bonellis: Der Mensch – sofern er nicht Narzisst ist – ist nicht nur Bauch, sondern auch Kopf und Herz. Der Autor sucht in verschiedenen Kulturen und bei verschiedenen Psychologen und Philosophen nach entsprechenden Einteilungen. In der Antike ging es um Eros, Philia und Agape, bei Freud um Es, Über-Ich und Ich – wobei das Es dem Bauch entspricht, Über-Ich und Ich aber nicht Kopf und Herz. Vieles findet der Autor bei Viktor Frankl und anderen, auffallend ist das Fehlen von C.G. Jung. Der hätte noch zwischen Emotion (Bauch) und Gefühl (Herz) unterschieden, und auch zwischen Bauch und Intuition.

 

Interessant aber ist, dass Bonelli auch im Eros noch unterscheidet zwischen „Venus“ (wobei nicht klar ist, warum diese Bezeichnung) und „Eros“. Im ersteren Fall geht es rein um den (austauschbaren) Körper und um Nehmen/Konsumieren, beim Eros sehr wohl um das Sehen der Person und um ein Geben. Eros ist wichtig, um eine Beziehung zu einem Menschen aufbauen zu können, um zusammenzuwachsen braucht es aber mehr: vom „Ich will dich“ (Bauch) zum „Ich sehe dich als Mensch, der du bist“.

 

Fast alle Bauchgefühle (Jung würde sagen Emotionen) können großen Nutzen bringen, vor etwas schützen, auf etwas Gutes aufmerksam machen, aber sie „können manchmal irren, doch fast immer übertreiben sie“. Der Bauch allein kennt kein Maß und keine Balance, und er überschätzt sich gerne. Ist jemand fast nur Bauch, kommt er einem egozentrischen, empathielosen Narzissten nahe, ist er fast nur Kopf, wird er zum kalten, berechnenden Rationalisten, ist er nur Herz, wird er blind zwischen Bauch und Kopf. Menschlich ist das Herz, das Bauch (Leidenschaft) und Kopf (Ratio) einschließt und aus dieser Mitte heraus fühlt und agiert.

 

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Während ein Bauchmensch in seinem Pseudo-„Hier und Jetzt“ selbstimmanent verhaftet bleibt und sich Selbstüberschätzung und Fremdabwertung aufschaukeln (Narzissmus) und jede Entwicklung ausgeschlossen ist („Ich bin eben so“), geht es im menschlichen Leben um ein über sich Hinauswachsen, um Selbsttranszendenz (Viktor Frankl), um Hinwendung zu einem Du (Martin Buber). Ein Narzisst bekommt durch sein Charisma und seine Fähigkeit der Täuschung meist was er will – am Ende ist er aber allein.

 

Durch eine gute Balance zwischen Bauch, Kopf und Herz kann man letztendlich auch den Extremen von Selbstsucht und Selbstverleugnung entgehen. Nach Viktor Frankl weist Menschsein über sich hinaus, „auf etwas oder jemanden, auf einen Sinn“. Das sich Verlieren wird zum sich Finden. Frankl: „In dem Maß, in dem der Mensch solcherart sich selbst transzendiert, verwirklicht er auch sich selbst.“

 

Wie immer, verdeutlicht Bonelli vieles durch Fallbeispiele aus der psychotherapeutischen Praxis.

 

 

Raphael Bonelli

BAUCHGEFÜHLE

Wie sie entstehen

Was sie uns sagen

Wie wir sie nützen

 

Edition a, 2022. 224 Seiten, gebunden

ISBN 978-3-99001-603-9

 

EUR 24,00

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Robert Harsieber

 

Philosoph - Journalist - Verleger

 

„Die Art,

wie wir die Welt sehen,

erleben und in ihr agieren,

hängt ab von einem ‚Denkrahmen‘.

Er zeigt den für uns wichtig gewordenen, gewohnten Ausschnitt der Wirklichkeit.

Er schließt ein

und er grenzt aus.

In diesen Denkrahmen

sind wir hineingewachsen.

Wir können aber auch

über ihn hinauswachsen.“