· 

Die Frage nach Ursprung, Realität und Wirklichkeit

(aus Robert Harsieber: Quantenlogik und Lebenswelt. Wege zu einem neuen Denken. Ibera/European University Press 2021, S. 46-49)

 

Immer schon interessierten sich die Menschen für die Frage nach dem Ursprung: Wie ist die Welt entstanden? Was hat dazu geführt, dass die Welt so ist, wie sie ist? Bis etwa 1900 konnte man über diese Frage „nur“ spekulieren. Seit Albert Einstein ist es möglich, diese fundamentale Frage auch naturwissenschaftlich zu untersuchen, wenn auch in der methodischen Einschränkung der Naturwissenschaft auf die „res extensa“. Seither hat die Naturwissenschaft einen weiten Weg zurückgelegt, einen Weg allerdings, der voller Überraschungen war.

 

Voraus ist aber festzuhalten, dass die philosophischen und theologischen Spekulationen die Welt als Ganze betreffen, also das Universum, das Leben und den Menschen. Die Fragen der Naturwissenschaft, der Physik und Kosmologie betreffen ausschließlich das materielle Universum. Fragen mit philosophischer und theologischer Dimension können von der Naturwissenschaft nicht gestellt, geschweige denn beantwortet werden. Trotzdem sind die naturwissenschaftlichen Hypothesen auch für die Philosophie und Theologie von eminenter Bedeutung und werden von diesen viel zu wenig beachtet.

 

Die Methode der Naturwissenschaft beruht auf der Beschränkung der Wirklichkeit auf Materie in Raum und Zeit, auf das für alle Menschen gleichermaßen Gültige. Darin lag und liegt der ungeheure Erfolg dieser Disziplin. Das darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei um eine Teildisziplin handelt, die nicht die Absicht hat, das Ganze in den Blick zu bekommen. Es geht daher auch nicht um Welterklärung. Als Erwin Schrödinger einmal in einem Vortrag den Begriff „Weltlinie“ (in der Relativitätstheorie die Bahnlinie eines Teilchens im Raum-Zeit-Diagramm) verwenden wollte, hielt er kurz inne und meinte dann: „Ich sag’ so ungern ‚Weltlinie‘, weil zur Welt doch so viel mehr gehört als bloß Teilchen in Raum und Zeit!“34

 

Wörter, die ein Ganzes bezeichnen (Welt, Materie, Leben, Seele, Geist), müssen in der Naturwissenschaft vermieden werden. Ein Ganzes kann nicht definiert, abgegrenzt werden und die Methode des Fragmentierens geht immer vom Ganzen weg. Der modische Satz: „Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile“ stimmt zwar, bedeutet aber auch, dass man aus den Teilen niemals ein Ganzes zusammensetzen kann. Ein Puzzle ergibt zwar ein Bild, aber es sind immer noch Teile und kein Ganzes. Genau genommen ist das Ganze nicht mehr als die Summe seiner Teile, sondern etwas anderes (Herbert Pietschmann35). Erwin Schrödinger drückte es in der Sprache der Quantentheorie so aus: „Wenn zwei Systeme in Wechselwirkung treten, treten, wie wir gesehen haben, nicht etwa ihre Ψ-Funktionen in Wechselwirkung, sondern die hören sofort zu existieren auf und eine einzige für das Gesamtsystem tritt an ihre Stelle.36

 

Wer sich darauf einlässt, dass dies der gewohnten Logik widerspricht, wird Relativitätstheorie, Quantentheorie und Kosmologie spannender finden als jeden Kriminalroman, aber auch der Versuchung nicht erliegen, moderne Physik und Mystik gleichzusetzen, oder das Bewusstsein physikalisch zu erklären. Das passierte in den1970er Jahren, der bekannteste war Fritjof Capra. Heute haben wir eine Quanteninflation (Quantenphilosophie, Quantenmedizin, Quantenheilung …), wobei das Wort „Quanten“ meist nur ein Marketingtrick ist oder wieder ein Kurzschluss zur Esoterik bemüht wird. Das sind jedoch mehr oder weniger unlautere Versuche.

 

Was notwendig wäre, aber bisher noch aussteht, ist zu sehen, dass die Quantentheorie ein neues Denken erfordert, weil sie über die aristotelische Logik, die bis zur Naturwissenschaft sich nicht allzu sehr geändert hat, hinausgeht. Gegensätze schließen einander nicht mehr unbedingt aus, Objektivität gibt es streng genommen nicht mehr, Beziehung ist eine eigene Wirklichkeit und bedarf keines Etwas – die Realität von Objekten ist fraglich geworden. Es ergibt keinen Sinn mehr, von Teilchenbahnen zu reden, und manchmal sieht es sogar danach aus, als könnten wir etwas ändern, das in der Vergangenheit passiert ist. Wir müssen zwischen Wirklichkeit (als Ganzes und nicht Erkennbares) und Realität (von res = Ding) unterscheiden.37

 

Wir sind damit in einem Bereich jenseits unserer Vorstellungen, der aber trotzdem noch Physik ist und mit Materie zu tun hat. Wir haben eine Grenze überschritten, an der die bisherigen Gesetze ihre Gültigkeit verlieren. Begriffe wie Materie, Raum, Zeit, Kausalität usw. verlieren ihre gewohnte Bedeutung. Es ergibt keinen Sinn mehr, diese Begriffe auf die Welt der Elementarteilchen anzuwenden. Wir stehen plötzlich vor einer „physikalischen Metaphysik“. Hier sind die klassische Logik und gewohnte Vorstellungen außer Kraft gesetzt, obwohl es sich immer noch nur um Materie in Raum und Zeit handelt.

 

Natürlich ist es bemerkenswert, dass diese neue Sprache wieder irgendwie der früheren gleicht. „Auch die Wissenschaft spricht nur in Gleichnissen“ lautet der Titel eines Buches von Hans-Peter Dürr38. Der Versuchung, vorschnell eine Brücke zur Esoterik, Religion und Mystik zu legen, sollte man aber widerstehen. Zwar scheint damit so etwas wie eine universelle Sprache, eine Weltformel des Denkens, möglich zu werden, doch darf man dabei die verschiedenen Dimensionen wie Materie, Leben, Psyche, Seele, Geist nie außer Acht lassen. Mit einer Nivellierung dieser Ebenen ist nichts gewonnen, sondern viel verloren.

 

Was bleibt, ist, dass es selbst in der Physik nicht mehr um bloße „Fakten“ geht, nicht mehr nur um Objektives (Teilchenbild), sondern auch um Beziehung (Wellenbild). Die Dinge und Objekte sind – für sich genommen und isoliert – nichts. Sie sind nicht aus ihrem Kontext herauszulösen, sie sind nichts ohne ihre Beziehung zu ihrer Umwelt. Die Dinge und Objekte sind das, was uns ins Auge fällt, aber erst die Beziehungen machen die „Welt“ aus. Unsere Lebensprobleme – oder überhaupt unser Leben – haben meist nichts mit Objekten, sondern viel mehr mit deren Beziehung zur Umwelt und unserer Beziehung zu ihnen zu tun. In der Sprache der Physik: Das Wellenartige oder Feldartige ist näher an der Wirklichkeit als eine teilchenartige objektive Realität.

 

Über Einzelereignisse dieser realen Welt kann die Physik, kann die Quantentheorie nichts aussagen. Sie ist Beschreibung der Potenzialität. Wolfgang Pauli weist darauf hin, „dass es sich bei den Aussagen der Quantenmechanik nur um Möglichkeiten, nicht um tatsächlich Geschehendes handelt. Sie lauten etwa: ‚Dies ist unmöglich‘ oder ‚Entweder dieses oder jenes ist möglich‘, aber sie können nie sagen: ‚Dies wird tatsächlich dann und dort geschehen‘. Die tatsächliche Beobachtung erscheint als ein Ereignis außerhalb der Reichweite einer Beschreibung durch physikalische Gesetze und liefert im Allgemeinen eine diskontinuierliche Auswahl aus den verschiedenen Möglichkeiten, die die statistischen Gesetze der neuen Theorie zur Verfügung stellen.“39

 

_________________________

34 Zit. in: Herbert Pietschmann: Erwin Schrödinger und die Zukunft der Naturwissenschaften. Picus 1987, S 20

35 „Das Ganze ist nicht mehr, sondern etwas anderes als die Summe seiner Teile!“ – Herbert Pietschmann: Das Ganze und seine Teile. Neues Denken seit der Quantenphysik. Ibera / European University Press 2013, S. 91 36 Zit. in: Ebda, S. 91

36 Zit. in: Ebda, S. 91

37 Manche, wie etwa Herbert Pietschmann, verwenden die beiden Begriffe in umgekehrter Bedeutung, was aber nichts am Sinn der Unterscheidung ändert.

38 Hans-Peter Dürr: Auch die Wissenschaft spricht nur in Gleichnissen. Herder spektrum, 3. Aufl. 2004

39 Wolfgang Pauli: Physik und Erkenntnistheorie. Springer Fachmedien 1984, S. 132

Kommentar schreiben

Kommentare: 0

Robert Harsieber

 

Philosoph - Journalist - Verleger

 

„Die Art,

wie wir die Welt sehen,

erleben und in ihr agieren,

hängt ab von einem ‚Denkrahmen‘.

Er zeigt den für uns wichtig gewordenen, gewohnten Ausschnitt der Wirklichkeit.

Er schließt ein

und er grenzt aus.

In diesen Denkrahmen

sind wir hineingewachsen.

Wir können aber auch

über ihn hinauswachsen.“