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Ilia Delio: Der unfertige Gott

 

 

Der unfertige Gott

 

Carl Gustav Jung, Teilhard de Chardin und die relationale Ganzheit

 

Wir sind „komplexe Menschen in einer komplexen Welt“. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzog sich ein radikaler Wandel in Physik (Quantentheorie), Psychologie (C. G. Jung) und Theologie (Teilhard de Chardin). Ihnen gemeinsam ist: Sie wurden und werden von einem allgemeinen Weltbild bis heute ignoriert. Teilhard kam auf den Index, der Satz von Erwin Ringel – „Wir leben noch immer so, als wäre das Unbewusste nie entdeckt worden“ – ist immer noch gültig, und die paradoxe Wirklichkeit der Quanten wird dem unendlich Kleinen überlassen – dass es unser Denken erschüttern müsste, bleibt unter dem Teppich.

 

Ilia Delio, eine amerikanische Theologin greift im vorliegenden Buch das, was die Welt immer noch ignoriert, auf, um es für die Theologie fruchtbar zu machen. Für den ratlos gewordenen Menschen der Gegenwart ist vielleicht weniger die Theologie als die Anthropologie interessant. Ging und geht es doch in den Religionen weniger um Gott als um den Menschen auf der Suche nach seiner Bestimmung. Und da lässt sich von C. G. Jung und Teilhard de Chardin, ebenso wie von der Quantentheorie einiges lernen.

 

Teilhard stellt den Menschen als die Spitze der Komplexität in die Evolution des Bewusstseins. Will heißen, er durchbricht das statische Welt- und Menschenbild (der Kirche und der Gesellschaft) und stellt den Menschen in die Dynamik der Evolution. Wobei das Bewusstsein in kosmische Dimension erweitert wird.

 

Jung öffnet das bewusste Sein hin zum Unbewussten und erweitert es in das kollektive Unbewusste. Was in den frühen Weltbildern bis hin zur Kirche nach außen projiziert wurde, nimmt Jung in die Psyche herein: Götter werden zu inneren Archetypen, die Gottesbilder zur Analogie des Selbst. Der Mensch ist nicht, er wird. Das statische Bild löst sich auf in der Individuation, durch die der Mensch ganz und erst Mensch wird.

 

Die Quantenphysik zeigt uns, dass sogar Materie nicht das ist, als was sie uns bisher erschien. Vor allem gibt es keine isolierten Teilchen, sondern nur Wechselwirkung. Ohne Umgebung und Wechselwirkung ist ein Teilchen nicht. Es geht immer um den Kontext – bis hin zum Kontext des Ganzen. Der naive Materialismus – isolierte Objekte in der Welt – ist damit obsolet.

 

Das alles lässt sich auf ein zukünftiges Welt- und Menschenbild anwenden. „Entweder wir verstehen unser Dasein innerhalb des Ganzen oder wir werden die Wahrheit unserer Existenz überhaupt nicht verstehen“, nimmt Delio das Thema des Buches vorweg. Dieser Holismus ist die Grundaussage und der rote Faden des Buches. Wir können den Menschen nicht aus dem Ganzen des Kosmos herauslösen (Teilhard), wir können den bewussten Menschen nicht vom kollektiven Unbewussten isolieren, die Ganzheit der Psyche (das Selbst) ist die innere Dynamik (Jung), genauso wie kein Teilchen im Universum isoliert für sich existiert, sondern immer nur in Wechselwirkung mit der Umgebung und dem gesamten Kosmos (Quantenphysik).

 

Die zentralen Themen sind „Ganzheit“ und „Beziehung“, und daraus ergibt sich ein „relationaler Holismus“. Wir können nicht von Teilchen oder Individuen reden, sie sind nicht ohne den Kontext im Ganzen. Und sie sind nie isolierte Teilchen oder Individuen, sondern immer nur in Beziehung zur Umgebung, zu anderen, zum Ganzen.

 

Auch der Mensch kann nicht als isolierte Insel existieren, sondern nur in Beziehung – in Beziehung zu sich, zur Umwelt, zum Kosmos und zum Unendlichen. Es gibt kein isoliertes Subjekt und kein vom Subjekt unabhängiges Objekt. Die Trennung von Subjekt und Objekt muss endlich aufgehoben werden. Denn das sind abstrakte Begriffe, die so in der Natur nicht vorkommen. Delio zitiert Albert Einstein: „Ein Mensch ist ein räumlich und zeitlich beschränktes Stück des Ganzen, das wir ‚Universum‘ nennen. Er erlebt sich und sein Fühlen als abgetrennt gegenüber dem Rest, eine optische Täuschung seines Bewusstseins.“ Dieses Zitat aus einem Brief wird in einer handschriftlichen Notiz Einsteins ergänzt: „Das Streben nach Befreiung von dieser Fesselung ist der einzige Gegenstand wirklicher Religion.“

 

Ilia Delio versucht vor dem Hintergrund des Versagens der Kirchen in der heutigen Zeit, all das für eine zukünftige Religion fruchtbar zu machen. Das heißt, Abschied zu nehmen von einem „Gott im Himmel“ hin zum Innersten im Menschen selbst. Wie die Autorin das darlegt, ist spannend und anregend zugleich.

 

 

IIlia Delio OSF

Der unfertige Gott

Carl Gustav Jung, Teilhard de Chardin und die relationale Ganzheit

 

Chalice Verlag 2024

Broschur, 420 Seiten, 32 Euro (D), 32,90 (A)

 

ISBN 978-3-942914-67-3

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Robert Harsieber

 

Philosoph - Journalist - Verleger

 

„Die Art,

wie wir die Welt sehen,

erleben und in ihr agieren,

hängt ab von einem ‚Denkrahmen‘.

Er zeigt den für uns wichtig gewordenen, gewohnten Ausschnitt der Wirklichkeit.

Er schließt ein

und er grenzt aus.

In diesen Denkrahmen

sind wir hineingewachsen.

Wir können aber auch

über ihn hinauswachsen.“